Die Organisation "Mütter von Srebrenica" gedenken Anfang April den Opfern des Massakers von Srebrenica 1995.Bild: AA / Elman Omic
Analyse
09.05.2022, 19:0810.06.2022, 11:25
Nach dem Aufruf von Opferverbänden des Bosnien-Krieges, fanden am Montag in Sarajevo, der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina, Demonstrationen zur Unterstützung der Ukraine statt. Darunter sind auch die "Mütter von Srebrenica".
Schon zu Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine wurden Vergleiche zum Massaker von Srebrenica gezogen. Spätestens aber nach dem Leichenfund in Butscha tauchten sie noch öfter auf.
Nach dem Abzug der russischen Truppen aus der Region um Kiew wurden in der Vorstadt Butscha Hunderte Leichen auf den Straßen entdeckt. Teils gefesselt, verstümmelt oder brutal vom Fahrrad geschossen.
Jetzt wollen die Opfervereinigungen in Bosnien-Herzegowina der Ukraine ihre Solidarität ausdrücken. Viele der Demonstrierenden kennen den Schmerz der Verluste, die durch Kriege entstehen.
Demonstrationen in Bosnien
"Die Menschen haben sofort wieder die Bilder von damals vor Augen. Die Trauer und Angst kehren zurück", sagte die in Deutschland lebende bosnische Filmregisseurin Jasmila Žbanić im April dem Tagesspiegel.
In Bosnien gibt es nicht erst jetzt Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine. Bereits kurz nach Putins brutalem Einmarsch in das Nachbarland gab es eine Welle des Mitgefühls. So wurden auch in Bosnien, wie in vielen anderen Ländern auch, Wahrzeichen in den Farben der ukrainischen Flagge angestrahlt.
Eine Brücke in Mostar, im Süden von Bosien-Herzegowina, wird am 25. Februar, einen Tag nach Putins Einmarsch in die Ukraine, in den Landesfarben angestrahlt.Bild: www.imago-images.de / Denis Kapetanovic/PIXSELL
Žbanić sagt: "Gerade werden Tausende von Menschen getötet, weil niemand versucht, ernsthafte Friedensgespräche zu organisieren. Wo ist die EU?" Wie in Bosnien stehe sie "total verloren" daneben und wisse nicht, was sie tun soll.
Die Menschen in Bosnien-Herzegowina wollten den Ukrainerinnen und Ukrainern gerne helfen, wünschen sich, dass der Krieg ein Ende hat, sagt sie.
Während ihr Land selbst vor einer gefährlichen Situation steht: Der serbische Landesteil, die Republika Sprska, hat Ende 2021 angekündigt, sich aus dem Justizsystem des Gesamtstaates zurückziehen zu wollen. Es soll eine eigene Armee formiert werden. Dabei soll auch Russland im Hintergrund aktiv sein. "Putin will Europa auf verschiedenen Ebenen destabilisieren", sagt Žbanić.
Das Massaker von Srebrenica
Ein Ereignis, dessen Folgen bis heute reichen, war das Massaker von Srebrenica. Es war ein Kriegsverbrechen während des Bosnienkrieges von 1992 bis 1995. Der Genozid ereignete sich innerhalb mehrerer Tage im Juli 1995 und an mehreren Orten rund um die bosnische Stadt Srebrenica.
Es gilt als das schlimmste Kriegsverbrechen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges und wurde an etwa 8000 muslimischen Jungen und Männern in Srebrenica begangen. Insgesamt wurden während des Bosnienkrieges mehr als 100.000 Menschen getötet und 2,2 Millionen vertrieben.
Verübt wurde das Kriegsverbrechen unter der Führung des ehemaligen bosnisch-serbischen Generals der Armee der Republika Srpska (VRS), der Polizei und des serbischen Paramilitärs.
Anschließend wurden tausende Leichen in Massengräbern vergraben und mehrfach umgebettet, um das Verbrechen zu verschleiern. Die Rolle der zu der Zeit in Bosnien stationierten niederländischen UN-Soldaten ist nach wie vor umstritten. Sie sollen nicht eingeschritten sein, um die Morde zu verhindern.
Staatliche Gedenkstätte in der Nähe von Srebrenica, in der die gefundenen Überreste der Opfer des Massakers von 1995 beigesetzt werden.Bild: JOKER / Martin Fejer/ est&ost
Der Bosnienkrieg reihte sich in mehrere Kriege ein, die den Zerfall des Staates Jugoslawien prägten: den Zehn-Tage-Krieg um Slowenien im Jahr 1991, den Kroatienkrieg von 1991 bis 1995 und den Kosovokrieg 1999. Er wurde durch das Abkommen von Dayton beendet, das die Grundlage für die Struktur des heutigen bosnischen Staates schuf.
Um den Frieden in Bosnien und Herzegowina zu wahren, wurde die EU-Mission Eufor Althea 2004 ins Leben gerufen. Sie soll die Sicherheit in Bosnien garantieren und die Umsetzng des Friedensvertrags von 1995 überwachen. Seit 2012 waren deutsche Soldaten nicht mehr an der Mission beteiligt.
Das soll sich jetzt ändern: Im April bestätigte das Auswärtige Amt in Berlin bereits, dass eine erneute Beteiligung der Bundeswehr geprüft werde. Zu diesem Zweck reiste Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht vergangene Woche zu Gesprächen nach Bosnien-Herzegowina.
Belma Zulčić, Direktorin der Gesellschaft für bedrohte Völker – Bosnien und Herzegowina, sagt auf Anfrage von watson:
"Der Ukraine-Krieg hat leider auch die Wahrscheinlichkeit eines neuen Krieges in Bosnien und Herzegowina eröffnet. Putin hat Verbündete unter den vor allem serbischen Nationalisten in Bosnien und Herzegowina und diese wirken im Einklang mit seinen Plänen."
Deshalb sei es für alle Bürger des Landes, insbesondere die Angehörigen der getöteten Opfer im vergangenen Krieg, sehr wichtig, dass die EU-Mission in Bosnien und Herzegowina gestärkt werde. So könne ein neuer Krieg rechtzeitig verhindert werden.
Die Mütter von Srebrenica
Der im Juli 1995 in Srebrenica begangene Genozid hat nicht nur die direkten Familienmitglieder, wie etwa die Eltern der Opfer, getroffen. Die Folgen reichen weiter. Bis heute kämpfen Nachkommen der Opfer des Genozids mit Traumata.
Viele von ihnen konnten ihre Angehörigen auch 30 Jahre später noch nicht beerdigen. Sie suchen nach Gerechtigkeit für das, was ihren Familien angetan wurde. Und müssen zusätzlich ein Nachkriegsland wieder aufbauen und den Frieden erhalten.
Einige wurden Opfer von Vergewaltigungen durch das Militär. Die Frauen und ihre Kinder müssen dieses Trauma ebenfalls noch bis heute aufarbeiten.
Die Organisation Mütter von Srebrenica bei einem Protest in Gedenken an die Opfer des Massakers von Srebrenica.Bild: AA / Ahmed Besic
Eine Vereinigung, die ihre Interessen vertritt, sind die Mütter von Srebrenica. Sie haben am Montag zu Demonstrationen in Sarajevo aufgerufen, um den Menschen in der Ukraine ihre Solidarität auszudrücken.
Die Mütter von Srebrenica – auch bekannt als die Mütter der Enklaven Srebrenica und Žepa – sind eine Aktivistengruppe aus den Niederlanden. Sie vertreten die Interessen von rund 6000 Überlebenden der Belagerung von Srebrenica während der Balkankriege in den 1990er Jahren.
Die Vereinigung wurde 2002 von der Menschenrechtsaktivistin Hatidža Mehmedović und unter der Schirmherrschaft der Gesellschaft für bedrohte Völker gegründet. Mehmedović verlor bei dem Massaker von Srebrenica ihren Mann und ihre beiden Söhne. Bis zu ihrem Tod 2018 war sie Präsidentin der Mütter von Srebrenica.
In der Vergangenheit erregte die Organisation mit einer Zivilklage gegen die Vereinten Nationen (UN) und die Niederlande Aufmerksamkeit. Der Vorwurf: Die UN sei für den Tod von etwa 8000 bosnischen Muslimen im Juli 1995 verantwortlich.
Außenministerin Annalena Baerbock zu Besuch bei Vertreterinnen der Mütter von Srebrenica im März 2022.Bild: PHOTOTHEK / Thomas Imo
Der Genozid sei nicht verhindert worden, die muslimischen Männer und Jungen seien nicht ausreichend vor der Ermordung durch bosnisch-serbische Milizen geschützt worden. Damit sei ihre Sorgfaltspflicht nicht erfüllt worden.
Diese Klage wurde im Jahr 2010 abgewiesen. Der Grund: Die UN sei nicht für den Völkermord im Jahr 1995 verantwortlich und könne nicht vor einem Mitgliedsland, wie den Niederlanden, verklagt werden.
Anschließend wurde der Fall vor verschiedenen Gerichten verhandelt. 2019 entschied dann der Oberste Gerichtshof der Niederlande, dass die niederländischen Streitkräfte zu 10 Prozent für das Massaker von Srebrenica verantwortlich sind.
Vergleich zu Butscha
Nach dem Rückzug russischer Truppen in der Region rund um Kiew, wurden in Butscha und einigen weiteren ukrainischen Städten, wie Borodjanka, hunderte Leichen gefunden. Seitdem steht ein mögliches russisches Kriegsverbrechen im Raum. Der Kreml bestreitet dies allerdings nach wie vor.
Viele fühlten sich an das Massaker von Srebrenica 1995 erinnert und sprachen von einem "Srebrenica des 21. Jahrhunderts".
Belma Zulčić sieht Butscha "nur als einen Beginn der Massenverbrechen in der Ukraine". Sollte es kein Eingreifen geben, werde das Ausmaß an Verbrechen zunehmen, sagt sie zu watson. Das Massaker von Srebrenica sei ebenfalls "eine Kulmination der Verbrechen nach jahrelangem Zuschauen durch Europa und der ganzen Welt" gewesen.
Die zerstörte Nationalbibliothek in Sarajevo, Bosnien und Herzegowina, 1994.Bild: www.imago-images.de / Duffour/Andia.fr
Ob Butscha mit Srebrenica verglichen werden kann, hängt von einem entscheidenden Faktor ab: Ein Völkermord muss vor Gericht, wie dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, bestätigt werden.
Für diese Einstufung ist entscheidend, dass eine ganze Nation geschädigt werden sollte. Das zu beweisen, ist allerdings schwierig und benötigt vor allem eines: Zeit.