Seit 18 Monaten greift Russland die Ukraine an – beißt sich regelrecht einen Zahn aus. Denn: Die Ukraine entpuppte sich zäher, als die russischen Militärberater:innen des Kreml wohl erwartet hatten.
Der russische Präsident Wladimir Putin bezeichnet den völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine als "militärische Spezialoperation". Es sollte offenbar ruckzuck gehen, in kürzester Zeit Kiew einzunehmen unter dem Jubel "befreiter Ukrainer:innen". Doch Putins Traum zerplatzte am geballten Widerstand der ukrainischen Armee und des Volkes.
Die russische Armeeführung schickt für die brutale Invasion viele Soldaten regelrecht in den Fleischwolf. Aber auch die Ukraine bezahlt einen hohen Preis, um sich gegen den Angreifer zu wehren.
Ob auf beiden Seiten irgendwann der Nachschub an Soldat:innen ausgehen kann, ordnet der Konfliktbeobachter Nikita Gerasimov ein.
500.000 Schicksale – so viele ukrainische und russische Soldat:innen sollen seit Beginn des Krieges in der Ukraine getötet oder verwundet worden sein. Das ergibt ein Bericht der "New York Times" im August.
Die Zahl der militärischen Opfer in Russland liege nach offiziellen Angaben bei 300.000. "Die Zahl umfasst bis zu 120.000 Tote und 170.000 bis 180.000 verletzte Soldaten", schreibt die Zeitung. Die ukrainische Seite soll hingegen etwa 70.000 Tote und 100.000 bis 120.000 Verwundete aufweisen.
"Um es ganz platt zu sagen, ja, der russischen Armeegruppierung in der Ukraine gehen die Männer aus", sagt Konfliktbeobachter Gerasimov von der Freien Universität Berlin. Die Kämpfe seien erbittert, die Opferzahlen hoch. Ersatz und Verstärkung müssen dringend her.
"Auch die im Herbst 2022 mobilisierten Männer müssen dringend in die Rotation, dies wird auch von russischen Kriegsreportern immer dringender auf den Plan gebracht", führt er aus. Dies mache eine nächste russische Welle der Mobilmachung mehr oder weniger unvermeidlich. Allerdings gibt es wohl ein Problem.
Gerasimov sagt:
Bereits bei früheren Mobilisierungen in Russland kam es zu einer immensen Fluchtwelle an Russen etwa nach Zentralasien. "Um eine solche zweite Welle zu verhindern, setzt Moskau auf die 'verdeckte Mobilmachung'", meint der Experte.
Sprich, ohne offiziell eine Mobilisierung auszurufen, locke die russische Armee "Freiwillige" im großen Stil an – darunter auch ganz junge Leute, die gerade ihren 18. Geburtstag gefeiert haben, sagt Gerasimov.
Dazu häuften sich Berichte, dass Russen wohl ukrainische Teenager in besetzten Gebieten für den Krieg ausbilden, das schreibt etwa das "National Center for Resistance of Ukraine".
Das sogenannte nationale Widerstandszentrum der Ukraine wurde von den Special Operations Forces gegründet. Im Juli berichtet es, dass die Russen etwa in den vorübergehend besetzten Gebieten der Region Kherson ukrainische Jugendliche rekrutieren. "Die Jugendlichen wurden in Schießen, Taktik und anderen militärischen Fertigkeiten unterrichtet", heißt es im Bericht.
Sie erhielten auch Propagandavorträge über Russlands Vision der "militärischen Spezialoperation" und wurden darüber "aufgeklärt", dass ihr Heimatland zu Russland gehöre. Ob sich unter den Jugendlichen auch Minderjährige befinden, wird nicht erwähnt.
"Falls mit 'Jugendliche für den Krieg ausbilden' eine Rekrutierung von Minderjährigen als Soldaten in die Armee gemeint ist, so halte ich das für unglaubwürdig", sagt Gerasimov. Trotz aller Heftigkeit der russischen Mobilmachung ist bislang nicht bekannt, dass Moskau russische Minderjährige an die Waffen stellen würde.
Aber: "Falls gemeint ist, dass Jugendliche in Jugend-Militärorganisationen eine Art 'Grundtraining' bekommen, so ist das absolut wahrscheinlich", erklärt er. In Russland gebe es verschiedene Jugend-Militärorganisationen, die Jugendliche in Armee- und Volontärstrukturen einbinden und für potenzielle Militärlaufbahnen nach ihrem 18. Geburtstag vorbereiten.
Laut Gerasimov gibt es auch "Armee-Sommercamps", bei denen Kinder in ihren Schulferien mehrere Wochen in einem Militärcamp leben und "Grundtraining" erhalten, was sowohl eine Militär- als auch eine Pfadfinder-/Überlebens-Ausbildung beinhaltet. "Dass Moskau solche 'Angebote' auch auf den besetzten Gebieten eingeführt hat, wäre aus meiner Sicht nicht überraschend", sagt der Konfliktbeobachter.
Denn: Der Kreml betrachte diese Provinzen seit der "Eingliederung" als sein Territorium und die Menschen dort als reguläre "neue" russische Bürger:innen – mit allen daraus resultierenden Rechten und Pflichten.
So ganz ungewöhnlich seien solche Armee-Camps für Schüler:innen wohlgemerkt im globalen Vergleich nicht, meint Gerasimov. Auch in der Ukraine gibt es laut ihm ähnliche Programme – schon seit Jahren vor dem Kriegsausbruch. Doch wie sieht es hier mit dem Nachschub an Kämpfenden aus, um die russische Invasion abzuwehren?
Gerasimov zufolge nimmt die Mobilmachung in der Ukraine immer härtere Züge an, während die Zahl von geeigneten Männern immer weiter sinkt – durch Opfer einerseits und Emigration sowie Flucht von Wehrpflichtigen andererseits.
"Mit jedem Monat dürfte Kiew immer größere Schwierigkeiten erfahren, junge Männer für den Krieg zu rekrutieren", sagt Gerasimov. Die Zeit spiele, was das angeht, nicht auf der ukrainischen Seite.
Anders ausgedrückt: Die menschliche Ressource ist auf ukrainischer Seite um ein Vielfaches geringer als auf russischer. Und das, obwohl laut Medienberichten etwa 60.000 Soldatinnen in der ukrainischen Armee dienen, ohne dass für sie die Wehrpflicht gilt.
Auch die "New York Times" weist darauf hin, dass die Russen den Ukrainer:innen auf dem Schlachtfeld fast um ein Dreifaches überlegen sind. Russland hat zudem eine größere Bevölkerung, aus der es seine Reihen auffüllen kann.
"Während die realen Opferzahlen auf beiden Seiten kaum abzuschätzen sind, bleibt eine Gewissheit bestehen – Russland kann einen Ausdauerkrieg mit Blick auf die menschliche Ressource viel länger aushalten als die Ukraine", sagt Gerasimov . Genau deshalb brauche Kiew eigentlich einen möglichst schnellen Sieg, der mit der sommerlichen Gegenoffensive erhofft wurde.