In wenigen Wochen geht es los. In der Türkei finden die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt, Umfragen prophezeiten ein enges Rennen. Demnach könnte es knapp für den amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan werden. Der Ausgang der Wahlen ist auch für die Weltpolitik nicht ohne Bedeutung.
Oft für ihre Großmacht-Ambitionen belächelt, hat sich die Türkei zu einem wichtigen regionalen und geopolitischen Player entwickelt. Im Krieg in der Ukraine positioniert sich Erdoğan gern als Vermittler. Dabei zeigt die Türkei vor allem Stärke beim Kräftemessen um die Vormacht über das strategisch wichtige Schwarze Meer.
In Syrien führt Erdoğan Krieg gegen die Kurd:innen. Als Nato-Mitglied sorgt die Türkei für Trubel, etwa durch die Ablehnung eines Beitritts von Schweden. Zudem gilt die Türkei laut der Vereinten Nationen als das größte Aufnahmeland von Geflüchteten. Angesichts dieser Punkte bleibt es demnach spannend, ob sich Erdoğan durchsetzen kann oder ob die Türk:innen eine neue politische Führung wählen.
Wer den amtierenden Präsidenten Erdoğan herausfordert, warum die Wahlen einen Wendepunkt einleiten könnten und welcher prominente Kandidat die Gerüchteküche anheizt, erklärt euch watson in sieben Punkten.
Die kommende Präsidentschaftswahl in der Türkei soll am 14. Mai 2023 stattfinden. Dabei wird der Staatspräsidenten der Türkei bestimmt, der gleichzeitig Regierungschef ist.
Türk:innen im Ausland können schon ab 27. April abstimmen. Nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) leben rund 2,9 Millionen Personen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland. Davon haben etwa die Hälfte (circa 1,5 Millionen) die türkische Staatsangehörigkeit und können demnach in der Türkei wählen.
Die Wahlurnen stehen deutschlandweit in den türkischen Generalkonsulaten großer Städte. Zuvor müssen sich die Wahlberechtigten in die Wählerlisten eintragen lassen. Ausgezählt werden die Stimmzettel aus Deutschland anschließend in der Türkei. Die Ergebnisse werden erst zusammen mit denen in der Türkei bekannt gegeben.
Der amtierende Präsident Erdoğan tritt mit seiner islamisch-konservativen AKP im Bündnis mit der ultranationalistischen MHP und der kleinen, nationalistisch-religiösen BBP an. Ein Großteil der Opposition hat sich zu einem Sechser-Bündnis formiert, das von der sozialdemokratischen CHP angeführt wird. Das Oppositionsbündnis hat sich auf einen Herausforderer geeinigt: Kemal Kılıçdaroğlu. Er gilt als zurückhaltender Intellektueller, allerdings als guter Vermittler mit diplomatischem Geschick.
Neben der CHP und der nationalkonservativen Iyi-Partei gehören vier kleinere Parteien zum Sechser-Bündnis, darunter auch die Gelecek Partisi (Zukunftspartei) des ehemaligen Weggefährten Erdoğans und Ex-Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu.
Eine wichtige Rolle könnte die pro-kurdische HDP spielen. Sie hat bereits angekündigt, Oppositionsführer Kılıçdaroğlu unter bestimmten Bedingungen zu unterstützen und verzichtet darauf, eine:n eigene:n Kandidat:in aufzustellen, was das Oppositionsbündnis stärkt.
Für einen Überraschungsmoment könnte allerdings ein prominentes Gesicht aus dem Fußballsport sorgen.
Kaum hat dieser Kicker seine Fußballschuhe an den Nagel gehängt, sorgt er für wilde Gerüchte. Ex-Nationalspieler Mesut Özil soll für die Regierungspartei der Türkei kandidieren.
Laut einem Bericht des türkischen Nachrichtenportals "Haber7" steht der Weltmeister von 2014 auf der Kandidatenliste der AKP für die anstehenden Wahlen. Özil soll etwa als Kandidat der Partei in Istanbul oder Zonguldak gelistet sein. Der Artikel ist allerdings mittlerweile nicht mehr aufrufbar und wurde womöglich gelöscht.
Die Freundschaft zwischen Özil und Erdoğan ist bereits seit Jahren ein offenes Geheimnis. So lud der Ex-Kicker den türkischen Präsidenten etwa zu seiner Hochzeit ein.
2018 sorgte ein Foto Özils mit dem türkischen Präsidenten für große Kritik. Gemeinsam mit seinem Mannschaftskollegen İlkay Gündoğan posierte der damalige Nationalspieler mit Erdoğan. Fans warfen ihm vor, nicht hinter der deutschen Nationalmannschaft zu stehen und stattdessen Werte des umstrittenen Machthabers zu vertreten.
Ob Özil nun auch an Erdoğans Seite in die Politik einsteigt? Die Gerüchte brodeln auf alle Fälle.
Im aktuellen "PolitPro" Wahltrend zur Parlamentswahl erreicht Erdoğans Partei AKP 33,4 Prozent. Seine Bündnispartei, die ultranationalistische MHP, kommt auf 6,4 Prozent. Die Oppositionsparteien CHP und Iyi erreichen 27,5 Prozent sowie 11,3 Prozent. Beide haben seit der letzten Wahl in der Wählergunst zugelegt. AKP und MHP verlieren hingegen an Zustimmung. Die pro-kurdische HDP kommt auf 10,9 Prozent.
Diese Umfragen sind keine Wahlprognosen, sondern bilden lediglich die aktuelle politische Stimmung ab. Dennoch: Im Vergleich zu früheren Wahlen hat die Opposition wohl dieses Mal gute Chancen, Erdoğan zu besiegen.
Laut Expertenstimmen sinken die Umfragewerte für Erdoğans Partei aufgrund der hohen Inflation im Land und des schlechten Krisenmanagements nach dem Erdbeben.
Die Folgen des Erdbebens treffen das Land weiterhin hart. Der Wiederaufbau von zerstörten Gebäuden und der Infrastruktur geht in die Milliarden – Geld, das die Türkei ohne Unterstützung kaum allein aufbringen kann. Zudem sind nach Angaben der türkischen Regierung über drei Millionen Menschen gezwungen, das Erdbebengebiet zu verlassen.
Hinzu kommen die steigenden Lebenshaltungskosten durch die Inflation. Unabhängige Wirtschaftsforscher sehen die Realinflation gar bei über 120 Prozent. Gleichzeitig nimmt die Türkei so viele Geflüchtete wie kein anderes Land in der Welt auf.
Aktuell leben dort laut des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) mehr als 3,6 Millionen Vertriebene des syrischen Bürgerkriegs sowie knapp 320.000 Schutzsuchende aus anderen Ländern, hauptsächlich aus Afghanistan und dem Irak. Der UN zufolge belaste die hohe Flüchtlingszahl zunehmend die Ressourcen und die Infrastruktur in der Türkei.
Die Opposition aus CHP und Iyi steht nach Angaben von "PolitPro" für eine strenge Einwanderungspolitik, wohingegen sich die konservative AKP moderat zeigt. Allerdings setzt sich Erdoğans Partei für einen starken Nationalstaat ein und stellt Wirtschaftswachstum vor Klimaschutz. Vor allem die CHP zeigt sich hier liberaler, weltoffener und klimafreundlicher.
Wie Umfragen zeigen, könnten diese Wahlen Erdoğan gefährlich werden. Er selbst spricht von einer "Schicksalswahl". Dazu werden die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen erstmals unter den neuen Rahmenbedingungen der Verfassungsänderungen von 2018 durchgeführt. Es könnte ein Wendepunkt sein und neben einem Regierungswechsel auch einen Systemwechsel einläuten.
Die Türkei unter Erdogan sei ein "Paradebeispiel für ein wettbewerbsfähiges autoritäres Regime", in dem es zwar Wahlen gebe, "diese aber nicht frei und fair sind", sagt Gönül Tol, Direktorin des Türkei-Programms am Nahost-Institut in Washington der Nachrichtenagentur dpa. Es sei daher schwierig für die Opposition, den Gegner bei Wahlen zu besiegen.
Gelinge es trotzdem, sei das nach Ansicht von Tol nicht nur ein wichtiger Schritt für die Türkei, sondern es gebe "der Welt und der Demokratie die Hoffnung, dass autoritäre Regime überwunden werden können".
Gewinne Erdoğan dagegen eine weitere Amtszeit, würden Wahlen in der Türkei ihrer Ansicht nach in Zukunft keine Rolle mehr spielen.
(Mit Material der dpa)