Menschen rennen um ihr Leben. Eltern lehnen sich schützend über ihre Kinder, ein Mann zieht einen leblosen Körper am Bein hinter eine Säule. Es sind grausame Bilder, die um die Welt gehen und zeigen: Russland ist vor Terror nicht sicher.
Dabei trägt der russische Präsident Wladimir Putin zu gern das Bild nach außen: Der starke Mann, der für Ordnung und Sicherheit in Russland sorgt. Nun ermordeten Terroristen 137 Menschen in einem Konzertsaal am Stadtrand von Moskau – darunter auch Kinder. Dahinter soll die Dschihadistenmiliz IS stecken – doch das passt nicht in Putins Narrativ. "Die Ermittlungen dauern an", verkündet Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Montag gegenüber Reportern.
Doch eines ist klar: "Der Anschlag zeigt, dass der russische Staat verletzlicher und weniger stark ist, als Putin immer behauptet", sagt Russland-Experte Stefan Meister auf watson-Anfrage.
Laut Meister kommt dieser Terror direkt nach einer massiv manipulierten Wiederwahl Putins und mache ihn als der entscheidende Akteur in der russischen Politik auch mitverantwortlich für das Versagen.
Zwar habe der Vorfall wohl keine konkreten Folgen für den Kreml-Chef, "aber die Unterstützung in der Gesellschaft für den russischen Staat wird damit weiter sinken, die Glaubwürdigkeit des Staates, seine Bürger schützen zu können, ebenso", führt der Politikwissenschaftler von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) aus.
Nun müsse er mit Härte reagieren, versuchen zu demonstrieren, dass er handlungsfähig und der starke Mann sei. "Da es keine Rechtsstaatlichkeit in Russland gibt, kann es auch zu Schauprozessen und der Verurteilung von falschen Personen kommen", sagt Meister. Kritik an Putin werde nicht zugelassen.
Auf jeden Fall zeigt sich Meister zufolge, dass es Schwächen bei den russischen Geheimdiensten gibt, trotz Warnungen von US-Diensten scheint man nicht reagiert zu haben. Möglicherweise werden auch hier Personen gehen müssen, meint der Experte.
Die Frage kommt auf, inwiefern Putin die Terrorgefahr angesichts des Angriffskrieges in der Ukraine "vernachlässigt" hat. Meister führt dazu aus:
Laut Meister gibt es Berichte, dass russische Geheimdienste eng mit islamistischen Terroristen arbeiten, um die Ukraine zu schwächen. "Das hat es sicher für die Attentäter einfacher gemacht, unentdeckt zu bleiben."
Auch Osteuropa-Experte Andreas Umland meint auf watson-Anfrage, dass die Terrorgefahr wohl auch gar nicht mehr so sehr im Zentrum der Aufmerksamkeit des Kreml stand. Auch werde etwa die Kommunikation aus den USA nicht mehr ernst genommen, die Russland vor dem Anschlag warnten.
Laut des Analysts des Stockholm Centre for Eastern European Studies ist der Terrorakt für Putin nicht unproblematisch.
Das Ereignis widerspreche der ganzen Legitimationsstrategie des Regimes, welches auf Sicherheit, Schutz und Kontrolle ausgerichtet sei. "Demnach ist der Anschlag ein Zeichen für Kontrollverlust und ist insofern ein Problem für Putin", meint Umland.
Jetzt versuche er, diesen Anschlag in Verbindung mit dem Ukraine-Krieg zu bringen. Die Frage sei, ob dieses Narrativ in Russland verfängt. Laut Umland gibt es aber auch jene Interpretation, dass das Regime diesen Anschlag selbst zugelassen oder sogar organisiert habe. Dieser Version schenkt er aber nicht viel Glauben, weil es eben dem Legitimationsmodus widerspreche.
Was Umland aber durchaus plausibel findet: Dass der Anschlag womöglich von Teilen der Regierung zugelassen wurde. "Dann wäre der Anschlag auch ein Zeichen für Spannungen innerhalb Putins Regime", führt er aus. Weil man eben nicht dagegen vorgegangen ist. Derzeit könnte sich die Legitimation für Putin durchaus schwächen.
Auf der anderen Seite kann Putin auch Nutzen aus der Misere ziehen.
Laut Umland könnte Putin die angebliche Verbindung des Anschlags zur Ukraine auch als Vorwand für eine neue Mobilisierung und Radikalisierung des Angriffskrieges nutzen. "Zudem wird Putin den Terrorakt wohl auch dazu nutzen, das Regime noch totalitärer zu gestalten", prognostiziert Umland.
Zum Hintergrund: Maskierte Angreifer waren am Freitagabend in die voll besetzte Crocus City Hall im nordwestlich gelegenen Moskauer Vorort Krasnogorsk eingedrungen und hatten dort das Feuer eröffnet. Nach Angaben des russischen Ermittlungskomitees wurden mindestens 137 Menschen getötet. Die Behörden erwarten, dass die Zahl der Todesopfer noch steigt.
Rettungskräfte würden noch bis Dienstagabend in den Trümmern des Konzertsaals nach Toten suchen, erklärte Andrej Worobjow, Gouverneur der Region Moskau. 97 Menschen befanden sich noch im Krankenhaus. Insgesamt wurden 182 Menschen bei dem Angriff verletzt.
Kurz nach dem Angriff reklamierte die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) die Tat für sich und bekräftigte dies später mehrfach. Dem IS nahestehende Medienkanäle haben zudem Videos von den Bewaffneten in dem Konzertsaal veröffentlicht. Putin stellte hingegen eine Verbindungslinie zwischen dem Angriff und der Ukraine her. Die Regierung in Kiew weist jegliche Verwicklung in den Angriff zurück.
(Mit Material der AFP)