Der Krieg in der Ukraine ist in gewisser Weise ein Novum. Zwar kämpfen russische und ukrainische Streitkräfte, ähnlich wie in vielen vorherigen Gefechten, an einer fast klar definierten Frontlinie. Die eingesetzten Waffen – vor allem von russischer Seite – erinnern häufig an den Ersten oder Zweiten Weltkrieg, stammen teils sogar aus diesen Zeiten.
Doch etwas ist neu. Und es macht die tödlichen Kämpfe quasi zu einem Live-Spektakel für die ganze Welt.
Die Rede ist natürlich von der durch das Internet vernetzten Welt. Bilder, Videos, Sprachnachrichten, Live-Schalten auf Youtube oder Instagram, Twitter-Spaces. Alles, was im Gefecht geschieht, könnte binnen Sekunden in die Welt getragen werden.
Das gilt aber auch in die andere Richtung. Soldat:innen könnten theoretisch etwa durch Starlink-Verbindungen mitten in den heftigsten Kämpfen ihr Handy herausholen und die neuesten Nachrichten lesen, Instagram checken oder mit ihren Freund:innen chatten.
Was aber bedeutet das für die Moral jener, die täglich ihr Leben für die Freiheit der Ukraine riskieren?
Gerade während der heißen Phase der Gegenoffensive ist die Moral einer der wichtigsten Faktoren im Krieg. Wer in den vergangenen Monaten die Medien verfolgt hat, weiß, dass der geplante Schlag gegen Russland kaum zu umgehen war.
Und auch jetzt wird viel spekuliert, geurteilt, kritisiert.
Dass etwaige Nachrichten jene beeinflussen könnten, die an der Front kämpfen, vergessen viele. Vor allem außerhalb der Ukraine stellen sich die Menschen den Krieg wie ein durchgehendes Massaker vor – und das abgeschnitten vom Rest der Welt. Übertritt man die Grenze, glauben viele, ist man im Kriegsgebiet – und das ist lebensgefährlich.
Dass selbst in den umkämpften Gebieten der Ukraine etwas Ähnliches wie ein Alltag stattfindet, ist kaum vorstellbar. Und dass Soldat:innen am Abend – nach getaner Schicht quasi – 30 Minuten Auto fahren und in einer funktionierenden Stadt zum Pizza-Essen verabredet sind, schon mal gar nicht.
Doch genauso läuft es an vielen Stellen der Frontgebiete ab.
Dass die Moral der Kämpfer:innen von sehr großer Bedeutung ist, macht auch Militärpsychologe Hubert Annen deutlich. Er leitet den Studiengang Militärpsychologie und Militärpädagogik an der Militärakademie der ETH Zürich. Auf Anfrage von watson sagt er: "Die Frage der Moral stellt sich in der aktuellen Phase ganz besonders." Durch die monatelang angekündigte Offensive sei Erfolg in Aussicht gestellt worden.
Das kann motivieren, aber bei Misserfolgen eben auch in die andere Richtung schlagen.
Grundsätzlich, sagt Annen, hätten in der Literatur mindestens fünf Faktoren Einfluss auf die Motivation im Gefecht und darauf, ob die Soldat:innen an der Front (weiterhin) kämpfen.
Die meisten dieser Faktoren werden auch durch Social Media und Nachrichtenseiten beeinflusst. Dass die Verteidigung des Heimatlandes eine legitime Zielsetzung ist, bedürfe an sich keine weitere Erklärung, meint Annen. "Dieser Faktor war und ist ausschlaggebend für den hartnäckigen Widerstand der ukrainischen Streitkräfte", sagt er. Doch ob die Strategie, die die ukrainischen Streitkräfte innerhalb ihrer Gegenoffensive fahren, die richtige ist, wird auch in Talkshows und etwa auf Twitter heiß diskutiert.
Und auch das könnte zumindest in Teilen auf die Einstellung zur Zielsetzung einwirken.
Ziel der ukrainischen Militärführung ist offensichtlich, die russisch besetzten Gebiete zu zerteilen. Bisher hält Russland einen breiten Schlauch besetzt, der eine Front bildet, die vom Osten bis in den Süden des Landes führt.
Diesen Schlauch versucht die ukrainische Armee zu zerteilen – so wäre auch die Infrastruktur und damit die Versorgung der russischen Soldaten gehemmt.
Öffentliche Diskussionen darüber sind hierzulande vollkommen gängig. Genauso wie die Berichterstattung oder Social-Media-Beiträge über Tote, über Verletzte, über Aussichten auf Erfolg. Dabei kann Angst durch soziale Medien gefördert und Vertrauen zerstört werden. Werden Anführer öffentlich durch den Dreck gezogen, können Soldat:innen auch beginnen, ihre Führung zu hinterfragen. Annen nennt ein Beispiel aus der Vergangenheit:
Ein weiterer bedeutsamer Punkt: Waffenlieferungen.
Laut Annen lässt die Moral nach, wenn Soldat:innen den Eindruck haben, mit der ihnen zur Verfügung gestellten Ausrüstung könnten sie den Auftrag nicht erfüllen. Lesen und hören sie tagtäglich davon, wie schwierig der Weg zu weiteren Waffenlieferungen ist, wissen aber gleichzeitig, dass ihnen etwa Munition oder gar ganze Waffensysteme ausgehen, kann sie das demotivieren.
Und Demotivation kann eine ganze Mission torpedieren. In der Vergangenheit wurde auch immer wieder darauf verwiesen, wie die teils komplett fehlende Moral der russischen Streitkräfte diese oft in Bedrängnis brachte.
Auch die sogenannte "Heimatfront" sei "nachgewiesenermaßen ein relevantes Element", meint Annen. Diese sei auch im Vietnamkrieg von 1955 bis 1975 ein sich negativ auswirkender Faktor gewesen. "Zu wissen, dass die eigene Bevölkerung nicht hinter dem militärischen Einsatz steht, schlägt massiv auf die Moral der Soldaten", sagt der Experte. Diese Unterstützung erhält die ukrainische Armee allerdings – moralisch, aber auch monetär.
Viele ukrainische Privatmenschen spenden große Teile ihres Einkommens, starten selbst Spendenaktionen, um die Soldat:innen mit Ausrüstung, Fahrzeugen oder gar mit Drohnen auszustatten. Kinder malen regelmäßig Bilder für die Kämpfer:innen an der Front, in sozialen Medien werden die Militärs als Helden gefeiert.
Doch Annen warnt: "Die ukrainische Armee tut gut daran, mit geschickter Informationsführung den Glauben der Bevölkerung an die Schlagkraft ihrer Truppen aufrechtzuerhalten." Das ist offenbar in den vergangenen Monaten teilweise missglückt. Denn um den Glauben aufrechtzuerhalten, dürften keine übertriebenen Erwartungen geschürt werden. Das sei mit der Ankündigung der Gegenoffensive mehr oder weniger bewusst trotzdem geschehen.
Die Ukraine hatte gar einen eigenen Trailer für die Gegenoffensive veröffentlicht. Mittlerweile versuchen die führenden Kräfte jedoch, die Erwartungen wieder zurückzuschrauben. Etwa sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj kürzlich im Interview mit BBC: "Einige Leute glauben, dies sei ein Hollywood-Film und erwarten jetzt Ergebnisse. Das ist es aber nicht". Was auf dem Spiel stünde, seien Menschenleben.
"Es geht vor allem darum, die Truppen Erfolge spüren zu lassen und Erfolge auch gut zu vermarkten", meint der Experte. "Solange es immer wieder glaubwürdige Erfolgsmeldungen gibt, dürfte die Truppe die moralische Kraft zum Weiterkämpfen mobilisieren können."
Dass im Vergleich zu vergangenen Kriegen Social Media und die unmittelbare Verfügbarkeit und Steuerbarkeit von Informationen, Bildern und Videos eine ungleich größere Rolle für das Empfinden der Kämpfer:innen spielt, müsste auch in der politischen Führung anerkannt und "zielführend Einfluss genommen werden".