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Bergkarabach-Konflikt in Aserbaidschan: Experte äußert dramatische Befürchtung

ARCHIV - 02.12.2020, Aserbaidschan, Kalbajar: Geparkte aserbaidschanische Panzer stehen nebeneinander, nachdem eine Region in Berg-Karabach in aserbaidschanische Kontrolle übergeben wurde. Im Südkauka ...
Im Südkaukasus hat die Ex-Sowjetrepublik Aserbaidschan eine neue Militäroperation zur Eroberung der Konfliktregion Bergkarabach gestartet. Seit Dienstag läuft der Beschuss.Bild: AP / dpa / Emrah Gurel
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Experte ordnet Konflikt in Bergkarabach ein – und äußert Befürchtung

20.09.2023, 13:3021.09.2023, 09:37
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Bergkarabach kommt nicht zur Ruhe. Während sich die Lage in der südkaukasischen Region in den vergangenen Monaten immer weiter verschärfte, spitzt sie sich nun noch weiter zu. Schon vor Beginn des jüngsten Beschusses war die humanitäre Lage für die dort lebenden Menschen katastrophal. Aserbaidschan hatte den einzigen Zugang Armeniens in die Exklave – den sogenannten Latschin-Korridor – blockiert.

Die dort lebenden Armenier:innen lebten also schon zuvor in katastrophalen Verhältnissen.

Und damit nicht genug: Am Dienstag startete Aserbaidschan Angriffe in der Region. Es herrschte Krieg in Bergkarabach. Raketen, Artillerie, Tod und Angst terrorisierten die dort ansässigen Männer, Frauen und Kinder. Am Mittwochabend verkündete Aserbaidschan dann bereits das Ende der Kampfhandlungen.

Doch wie konnte die Lage in der südkaukasischen Region so eskalieren? Welches Ziel verfolgte die Ex-Sowjetrepublik Aserbaidschan hier eigentlich? Und welche Rolle spielen Russland und die internationale Gemeinschaft?

Stephan Malerius ist der Leiter des Regionalprogramms Politischer Dialog Südkaukasus bei der Konrad-Adenauer-Stiftung. Er ordnet die gewaltsame Eskalation für watson ein. Dabei äußerte er eine dramatische Befürchtung.

Konflikt in Bergkarabach: Über Monate deutete sich eine Eskalation an

Es hatte sich bereits abgezeichnet, dass sich die Lage in der südkaukasischen Region weiter zuspitzen würde, wie Stephan Malerius gegenüber watson bestätigt: "Es gab seit Wochen Truppenmassierungen auf der aserbaidschanischen Seite, eine Zunahme kriegslüsterner Rhetorik und auffällige Flugbewegung zwischen Aserbaidschan und der Türkei sowie Israel."

Über beide Länder sei bekannt, dass sie Aserbaidschan bereits 2020 im Krieg maßgeblich mit Waffen, insbesondere Drohnen, versorgt hatten. Hinzu komme: "Baku ist es offenbar gelungen, Russland dazu zu bewegen, bei einer neuen Eskalation des Konfliktes nicht einzugreifen." Auch das habe sich bereits abgezeichnet. Baku ist die Hauptstadt von Aserbaidschan.

Russland spielt im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan eine Rolle

Denn: Russland hat die Seiten gewechselt. "Es ist von der Schutzmacht Armeniens zu einem Verbündeten von Aserbaidschan geworden", sagt der Experte. Bereits 2020 hatte das Land unter Machthaber Wladimir Putin nicht auf der Seite Armeniens im Krieg angegriffen. Selbst dann nicht, als Aserbaidschan im September 2022 souveränes armenisches Territorium angriff.

Eine Entscheidung mit Folgen, wie Malerius am Dienstag weiter erklärt:

"Das hat zu den tiefgreifenden politischen Verwerfungen zwischen Jerewan und Moskau (Anm. d. Red.: Die Hauptstädte Armeniens und Russlands) geführt, die in den letzten Wochen zu beobachten waren. In Jerwan geht man davon aus, dass das Vorgehen Aserbaidschans heute mit Russland abgestimmt gewesen ist."

Am Dienstag griff Aserbaidschan die Region an, bezeichnet dies als "groß angelegte Militäroffensive" und "Anti-Terror-Einsätze". Das Land behauptete, damit armenische militärische Kräfte in dem Gebiet loswerden zu wollen. Diese würden in Bergkarabach "Aufklärungsarbeiten" betreiben. Offiziell forderte Aserbaidschan den vollständigen Abzug aller armenischen Kräfte und "Separatisten" aus Bergkarabach. Dies sei die Voraussetzung für einen Frieden in der Region.

19.09.2023, Armenien, Eriwan: Menschen versammeln sich vor dem armenischen Regierungsgebäude, um gegen Armeniens Premierminister Paschinjan zu protestieren. Aserbaidschan im Südkaukasus fordert als Be ...
Menschen protestieren vor dem armenischen Regierungsgebäude gegen Armeniens Premierminister Paschinjan.Bild: Photolure/AP / Vahram Baghdasaryan

Experte sicher: Aserbaidschan wird weitermachen, bis Armenier weg sind

Das eigentliche Problem: Bergkarabach gehört völkerrechtlich zu Aserbaidschan, wird jedoch überwiegend von Armenier:innen bewohnt.

Diese sind der Regierung in Baku laut dem Experten ein Dorn im Auge.

International war oft von einem befürchteten "Genozid" die Rede. Dazu sagt der Experte: "Ich würde das Ziel Aserbaidschans nicht als Genozid, sondern als ethnische Säuberung bezeichnen." Aserbaidschan will nach Meinung Malerius' die totale Kontrolle über das gesamte Gebiet Bergkarabach. Und das ausschließlich zu den Bedingungen des "zutiefst autoritären und extrem repressiven Regimes".

Aserbaidschan wolle sich dabei nicht mit Fragen der "Integration der armenischen Minderheit" in das eigene Territorium, mit Sicherheitsgarantien und Rechten für die Armenier beschäftigen, die dann aserbaidschanische Staatsbürger würden. "Einfacher ist es, sie einfach zu vertreiben."

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Experte äußert dramatische Befürchtung im Bergkarabach-Konflikt

Tote gab es dennoch. Innerhalb von nur einem Tag sind nach Angaben des Menschenrechtsbeauftragten von Arzach – also dem Defacto Staat in Bergkarabach – bereits mehr als zwei Dutzend Menschen bei dem Konflikt getötet worden. Mehr als 100 wurden demnach verletzt. Unter den Opfern sollen auch Zivilisten und Kinder sein.

19.09.2023, Aserbaidschan, Stepanakert: Kinder schlafen in einem Schutzraum während des Beschusses in Stepanakert in Berg-Karabach. Am ersten Tag eines von Aserbaidschan gestarteten Militäreinsatzes g ...
Kinder schlafen in einem Schutzraum während des Beschusses in Stepanakert in Berg-Karabach.Bild: AP / Siranush Sargsyan

Der unabhängige aserbaidschanische Journalist Habib Muntazir berichtet unter Berufung auf städtische Behörden und die Familien der Verstorbenen, dass bei dem aserbaidschanischen Angriff auf Berg-Karabach mehr als 20 aserbaidschanische Militärangehörige getötet wurden. Diese Angabe lässt sich aktuell nicht unabhängig überprüfen.

Der Experte Malerius befürchtete bereits vorab, dass Aserbaidschan im armenisch kontrollierten Teil von Bergkarabach "einmarschieren wird und die Kontrolle mit Gewalt zu erlangen" versucht. "Außerdem wird Aserbaidschan versuchen, die armenische Bevölkerung aus Bergkarabach gewaltsam zu vertreiben." Aber: vieles hänge jetzt davon ab, wie der Westen reagiert.

Tigran Grigoryan, ein in Eriwan ansässiger politischer Analyst aus Bergkarabach, sagte am Mittwoch, dass die aserbaidschanischen Streitkräfte bereits eine Reihe von Dörfern unter ihre Kontrolle gebracht hätten.

Geht es nach Meinung von Malerius, sei in der aktuellen Situation ein entschiedenes Vorgehen des Westens wichtig. Also vonseiten der EU und den USA:

"Das diplomatische Engagement der Amerikaner und Europäer in den letzten Monaten war richtig und gut, aber es war offensichtlich nicht ausreichend, um Alijew (Anm. d. Red.: Ilham Alijew, Präsident Asebaidschans) davon zu überzeugen, auf friedlichem Wege eine Lösung zu suchen. Da er das nicht will, muss der Westen Klartext reden."

Appelle, so wie jener von Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), kurz nach Bekanntwerden des Angriffs, seien nicht ausreichend. Stattdessen müsse der Westen Sanktionen gegen das Regine, ebenso wie gegen den Präsidenten persönlich, androhen. Dazu gehört etwa auch, den Gas-Deal aus dem vergangenen Jahr infrage zu stellen.

Nach dem vorläufigen Ende der Kämpfe in der Region strebt Aserbaidschan nun eine "friedliche Wiedereingliederung" des Gebiets in sein Territorium an, wie es behauptet. Es sei Baku gelungen, nach seinem Militäreinsatz gegen pro-armenische Kämpfer die "Souveränität wiederherzustellen", sagte der Präsident Alijew am Mittwochabend. Wie es nun mit der Bevölkerung weitergeht, wird sich wohl erst zeigen.

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