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Wahl in Ungarn: Eine Richtungsentscheidung zwischen der EU und Russland

(211114) -- BUDAPEST, Nov. 14, 2021 (Xinhua) -- Hungarian Prime Minister Viktor Orban delivers a speech during a congress of Fidesz in Budapest, Hungary, on Nov. 14, 2021. Orban has been re-elected pr ...
Der amtierende Präsident Ungarns, Viktor Orbán.Bild: XinHua / Attila Volgyi
Analyse

Wahl in Ungarn: Eine Richtungsentscheidung zwischen der EU und Russland

03.04.2022, 08:4703.04.2022, 10:57
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Seit 2010 ist Viktor Orbán ununterbrochen Ministerpräsident von Ungarn. Unter ihm und seiner Partei Fidesz (Fiatal Demokraták Szövetségen, auf Deutsch: Bund Junger Demokraten), sowie dem Koalitionspartner KDNP, hat sich das demokratische Land in der Mitte Europas nach und nach von den Prinzipien des Rechtsstaats abgewandt.

Am Sonntag wird in Ungarn das Parlament gewählt. Und es liegt zumindest im Bereich des Möglichen, dass Orbán als Fidesz-Spitzenkandidat seinem Gegenkandidaten Péter Márki-Zay unterliegen wird. Auch, wenn es unwahrscheinlich ist.

Márki-Zay ist Führer der Opposition und Bürgermeister einer ungarischen Kleinstadt. Er will, dass die Ungarn die Europäische Union wählen – und nicht Russland. Er nennt Orbán einen "Vaterlandsverräter".

Márki-Zay ist der Spitzenkandidat von sechs Oppositionsparteien.

Anders als bei vorherigen Wahlen haben sich diese nun nämlich zusammengetan, um gemeinsam die übermächtige Fidesz zu stürzen. Im Oppositionsbündnis sind Parteien von den Sozialisten und den Grünen bis zur rechtskonservativen Jobbik vertreten. In den Wahlkreisen kandidiert jeweils ein Oppositions-Kandidat. Und zwar immer der oder die mit den besten Chancen.

Péter Márki-Zay, unabhängiger Buergermeister von Hódmezövásárhely, hat die Vorwahlen der Opposition gewonnen. Die vereinte Opposition entschied in eigenen Vorwahlen, wer 2022 als gemeinsamer Kandidat  ...
Gegenkandidat Péter Márki-Zay.Bild: JOKER / Szilard Vörös/est&ost

Aktuelle Prognosen lassen allerdings darauf schließen, dass Orbán und seine Partei auch in Zukunft das Land regieren werden.

Was macht der ungarische Ministerpräsident eigentlich für eine Politik? Und was würde ein Regierungswechsel für die Europäische Union bedeuten?

Orbáns Politik: Zwischen Demokratieabbau und Russland-Fandom

Es war 2014, als Orbán ganz offiziell verkündete, dass die liberale Demokratie am Ende sei. Dass sich der ungarische Staat nicht länger an liberale Werte halten werde. Er erklärte, in Zukunft auf Russland, China und die Türkei schauen zu wollen. Sich an diesen Staaten zu orientieren. An Autokratien also.

Orbán und seine Partei nutzten ihre Macht. Änderten die Verfassung. Schrumpften die Medienlandschaft. Sie kontrollieren heute Gerichte und Universitäten. Halten politische Gegner klein.

Wie Russland begann auch das Orbán-Regime damit, vom Ausland finanzierte Nichtregierungsorganisationen zu beobachten.

NGOs, die das Ziel hatten, Ungarn beim Weg in die liberale Demokratie zu unterstützen; die Projekte unterstützen, die sich um Minderheiten kümmern sollten. Oder um die Umwelt. Orbán allerdings nannte die Mitglieder dieser NGOs "vom Ausland bezahlte politische Aktivisten." Alle NGOs, die Geld aus dem Ausland erhalten, mussten sich bei den ungarischen Behörden registrieren lassen. Und sie mussten auf ihren Webseiten darauf hinweisen, eine "aus dem Ausland unterstützte Organisation zu sein".

2020 urteilt der Europäische Gerichtshof, dass das entsprechende Gesetz einen Verstoß gegen EU-Grundrechte Charta darstellt.

Der Europäische Gerichtshof , EuGH, CVRIA, der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft, Cour de justice de l Union européenne, Verwaltungsgebäude in Luxemburg
Der Euopäische Gerichtshof rügt Ungarn immer wieder.Bild: dpa / Horst Galuschka

Stark beeindruckt zeigte sich Ungarn von diesem Urteil damals nicht.

Erst im Jahr 2021 wurde das Gesetz wieder aufgehoben. Und zwar, nachdem die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hatte.

Die populistische Stärke Orbáns hat sich während der Covid-Pandemie weiter entfaltet. Die Ausnahmesituation erlaubte es ihm, ein Gesetz durchzusetzen, das seine Macht ins nahezu Grenzenlose steigerte. Der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten im Europäischen Parlament zeigte sich besorgt. Der Vorsitzende des Ausschusses, Juan Fernando López Aguilar, sagte:

"Wir sind uns bewusst, dass die Mitgliedsstaaten in diesen schwierigen Zeiten die Verantwortung haben, Schutzmaßnahmen zu ergreifen, aber diese Maßnahmen sollten immer gewährleisten, dass die Grundrechte, die Rechtsstaatlichkeit und die demokratischen Prinzipien geschützt werden."

Im Juni 2020 wurde der sogenannte "Gefahrenzustand" wieder beendet. Viele der Dekrete, die Orbán während der Zeit erlassen hatte, sollten in Gesetze transformiert werden. Mache, obwohl sie nicht zwingend etwas mit Corona zu tun hatten, wie beispielsweise die Einrichtung von "Sonderwirtschaftszonen". Durch diese kann Kommunen der Zugriff auf besonders lukrative Gewerbegebiete entzogen werden.

Der Wissenschaftler Umut Korkut hat in einer Studie analysiert, wie Victor Orbán die drei großen Krisen der EU – die Finanzkrise 2008, die Geflüchtetenkrise 2015 und die Coronapandemie – genutzt hat, um seine Macht zu zementieren. Und zwar, indem der ungarische Ministerpräsident die Ängste der Bevölkerung geschürt habe.

SOROS, investor and philanthropist George Soros, 2019. © Abramorama /Courtesy Everett Collection
Orbáns Feindbild: der ungarisch-amerikanische Investor George Soros. Bild: Everett Collection / Courtesy Everett Collection

Eines seiner Lieblingsfeindbilder ist auch hier in Deutschland bekannt. Und zwar dank etlicher Verschwörungstheoretiker, die seit der Pandemie besonders laut sind: Es handelt sich um den ungarisch-amerikanischen Investor und Philanthropen George Soros. Orbán wirft Soros ohne ernsthafte Grundlage vor, 2015 die Geflüchtetenströme in Bewegung gesetzt zu haben. Behauptet, der 91-Jährige würde die Fidesz-Partei in der Welt schlechtreden. Würde Ungarn isolieren wollen.

Orbán und seine Partei starteten teilweise massiv antisemitische Kampagnen gegen Soros – die letztlich dazu führten, dass die konservative Europäische Volkspartei nach Jahren des Zauderns die Mitgliedschaft der Fidesz auf Eis legte. 2021 verließ die Fidesz selbst die EVP.

Aus Sicht der ungarischen Tageszeitung "Nepszava", die letzte größere, noch von der Fidesz-Regierung unabhängige Zeitung, ließen sich Entscheidungen und Äußerungen Orbáns der vergangenen Jahre heute besser deuten. Orbán rechne damit, dass Russland den Krieg gegen die Ukraine gewinnt. Und mit Blick auf spätere geostrategische Entwicklungen, versuche er, Ungarn an Putins Russland "zu ketten". "Vom Schikanieren der Zivilorganisationen über die Bekämpfung von Minderheiten bis zu der einer Machtlogik folgenden staatlichen Kirchenpolitik betrachtet er das Putin-System als Vorbild", schreibt die "Nepszava".

Schwerer Stand der Opposition

Dass die Fidesz so stark ist, hängt nicht ausschließlich mit der Beliebtheit der Partei zusammen. Vielmehr spielen das Wahlsystem und die staatlichen Medien hier eine nicht unbedeutende Rolle.

Die Opposition kommt in den staatsnahen Medien kaum zu Wort. Márki-Zay, der insgesamt sechs Parteien vertritt, hat im Wahlkampf gerade einmal fünf Minuten Redezeit eingeräumt bekommen, wie der paneuropäische Sender "euronews" berichtet.

Stattdessen wiederholen die staatlichen Sender die Propaganda der Fidesz. Eine unabhängige Presse gibt es kaum. Die Organisation "Reporter ohne Grenzen" hat Orbán auf die Liste der größten Feinde der Pressefreiheit gesetzt.

Ähnlich Fidesz-freundlich ist das Wahlsystem in Ungarn aufgebaut.

Aus Sicht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sind die Wahlen in Ungarn zwar frei, aber nicht fair. Viele Gesetze in Ungarn brauchen eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament.

Das Wahlrecht in Ungarn ist zudem so geregelt, dass durch diverse Kompensationsmechanismen die Wahl so verzerrt wird, dass die Partei mit den meisten Stimmen am Ende die Zwei-Drittel-Mehrheit automatisch bekommt.

Die Regierung hat außerdem einige Wahlkreise zugunsten der Fidesz-Kandidaten umgestaltet. Dieser Vorgang wird auch "Gerrymandering" genannt.

Gerrymandering
Gerrymandering ist die Verschiebung von Wahlkreisgrenzen zum eigenen Vorteil. Dieses Konzept ist nur im Mehrheitswahlrecht möglich, da hier das Konzept "The Winner takes it all" gilt. Wer im Wahlkreis die meisten Stimmen bekommt, sitzt im Parlament.

Bei Bundestagswahlen in Deutschland gilt ein sogenanntes personalisiertes Verhältniswahlrecht. Die Erststimme, bei der wir einen Direktkandidaten wählen, wird im Mehrheitswahlrecht vergeben. Die Zweitstimme, bei der wir eine Liste wählen, bestimmt aber über die Verteilung der Bundestagssitze nach Verhältniswahlrecht.

Bedeutung der Wahl für Europa

Im Jahr 2004 ist Ungarn der Europäischen Union beigetreten.

Und es ist heute eines der europäischen Sorgenkinder.

Wie gegen Polen hat die EU-Kommission auch hier den Rechtsstaatsmechanismus eingesetzt. Der soll zeitnah in Kraft treten: EU-Gelder werden dadurch eingefroren. Der Rechtsstaatsmechanismus kann angewendet werden, wenn Rechtsstaatsprobleme in einem EU-Land die rechtmäßige Verwendung der Fördermittel gefährden würden.

MOSCOW, RUSSIA - FEBRUARY 1, 2022: Hungary's Prime Minister Viktor Orban (L) and Russia's President Vladimir Putin give a joint press conference following their meeting at the Moscow Kremlin ...
Viktor Orbán und der russische Präsident Wladimir Putin.Bild: Russian President Press Office / Mikhail Klimentyev

Viktor Orbán beispielsweise hat EU-Subventionen genutzt, um seine Macht auf dem Land auszubauen. Wie der "SWR" berichtet, hat Orbán dafür gesorgt, dass mit ihm befreundete Oligarchen Ländereien in Ungarn bekommen. Und von der EU subventioniert werden. Die Ländereien seien zwar versteigert worden, mitbieten durfte aber nur eine ausgewählte Klientel. Die Regierung in Budapest bestreitet den Vorwurf der Begünstigung.

Aber nicht nur, wenn es um Rechtsstaatlichkeit und das liebe Geld geht, ist der ungarische Präsident auf Konfrontationskurs mit Brüssel. Nachdem die Europäische Kommission beispielsweise das Gesetz gegen "Homo- und Trans-Propaganda bei Minderjährigen" kritisiert hat, stellt Orbán klar, dass er die EU in ihrer jetzigen Form ablehne.

Sein Gegenkandidat, Márki-Zay, hingegen spricht sich ganz offiziell für die Europäische Union aus. "Ungarn gehört zu Westeuropa, ist im Christentum verwurzelt und wird ein treuer Verbündeter der NATO sein", hat Márki-Zay erst kürzlich gesagt.

Er kämpft mit diesen Aussagen gegen eine mögliche, durch die Fidesz und Orbán geschürte, EU-Feindlichkeit im Land an. Ein Punkt, aus dem er auch Kapital schlagen kann. Denn noch fühlt sich eine Mehrheit der Ungarn als EU-Bürger. Gleichzeitig gaben beim Eurobarometer 2021 auch 21 Prozent der Befragten an, sich nicht als Bürger der Europäischen Union zu verstehen.

Es ist also möglich, dass sich Ungarn unter Orbán auch in Zukunft weiter in Richtung Russland und Wladimir Putin entwickeln wird. Sollte trotz aller Statistiken und Widrigkeiten die Opposition gewinnen, könnte sich allerdings das Verhältnis zur Europäischen Union wieder verbessern.

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