Kanzler Olaf Scholz ist dafür, der französische Präsident Emmanuel Macron auch – und jetzt zieht die gesamte EU-Kommission nach: Sie sprach sich am Freitag dafür aus, die Ukraine offiziell zum Kandidaten für den Beitritt zur Europäischen Union zu ernennen.
Doch das bedeutet nicht, dass das von Russland angegriffene Land so schnell Teil der Europäischen Union sein wird. Bis dahin sind noch einige Hürden zu überwinden.
Um Mitglied der Staatengemeinschaft sein zu können, müssen Länder bestimmte Kriterien erfüllen. Welche das sind und wo die Ukraine noch Probleme hat, hat watson zusammengefasst.
Die 1993 in Kopenhagen von der EU formulierten Kriterien beschreiben die Voraussetzungen, die ein Land erfüllen muss, wenn es der EU beitreten möchte. Die setzen gleichzeitig die Fähigkeit zur Bedingung, das gesamte Recht und die Politik der EU für das eigene Land zu übernehmen.
Diese Kriterien gibt es:
Wie die Bundesregierung auf ihrer Website schreibt, werden die Bedingungen für die Beitritte grundsätzlich in Abkommen festgelegt. Dabei gehe man kapitelweise vor: Zur Zeit wird hier über 35 Kapitel verhandelt, die alle Rechtsbereiche umfassen.
Weil die Einführung der neuen Maßnahmen in Übergangsregelungen stattfindet, kann es viele Jahre dauern, bis ein Land tatsächlich EU-Mitglied wird.
Die EU-Kommission legt jährlich sogenannte Fortschrittsberichte vor.
"Durch das Assoziierungsabkommen ist die Ukraine wirtschaftlich bereits auf dem Weg", erklärt die Politikwissenschaftlerin Tanja Börzel auf Anfrage von watson. "Es hakt vor allem bei der Korruptionsbekämpfung, die mit der Rechtsstaatlichkeit zusammenhängt."
Tatsächlich hat die Ukraine – obwohl sie ein demokratisches Land mit freien Wahlen ist – weiterhin Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit. "Einflussreiche Akteure aus Politik und Wirtschaft haben ein Interesse daran, rechtsfreie Räume zu bewahren, weil sie ihnen zu Machterhalt und Bereicherung dienen", schreibt die Politikwissenschaftlerin Susan Stewart bei der "Stiftung Wissenschaft und Politik".
Der seit 2014 schwelende Krieg im Osten der Ukraine war bisher mit ein Grund, warum sich etwaige Reformen so lange hinzogen. Grundsteine seien aber bereits gelegt, schreibt Stewart in ihrer Analyse. Als Beispiel nennt sie das 2015 in Kraft getretene Gesetz zur "Vorbeugung von Korruption".
Dieses Gesetz hat die Meldepflicht von Politikerinnen und Staatsbeamten bezüglich ihres Einkommens verschärft. Doch so richtig gut funktioniert diese Reform bis heute noch nicht: Laut Welt-Korruptions-Index von "Transparency International" liegt die Ukraine weltweit auf Platz 117 von 179.
Doch die EU unterstützt die Ukraine bei ihren Vorhaben. Laut Expertin Tanja Börzel hat die EU "viel Erfahrung und kann mit technischer Unterstützung helfen." Außerdem helfe die sogenannte Beitrittskonditionalität dabei, sich mit den Oligarchen anzulegen. Diese Konditionalitäten sind politische oder auch finanzielle Anreize.
Der Politikwissenschaftler Frank Schimmelfenning schreibt dazu für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung: "Konditionalität kann dann erfolgreich sein, wenn die Zielregierung einen politischen Nutzen aus der in Aussicht gestellten Belohnung erwartet, der die Anpassungskosten für die geforderten Reformen übersteigt."
Ähnlich ausbaufähig wie die Rechtsstaatlichkeit ist das Justizsystem in der Ukraine. In einem Rechtsstaat müssen Richterinnen und Richter unabhängig von der Regierung entscheiden dürfen. Beobachterinnen und Beobachter gehen allerdings davon aus, dass das in der Ukraine nicht der Fall ist.
Nach 2014 wollte sich das Land allerdings den Problemen stellen. Es gab umfassende Justizreformen unter den Präsidenten Petro Poroschenko und Wolodymyr Selenskyj. Aber: "Die Justizreformen der vergangenen Jahre haben leider keine substanziellen Verbesserungen im Justizwesen gebracht", schreiben die Politikwissenschaftlerin Maria Popova und der Politikwissenschaftler Mykhailo Zhernakov für die Bundeszentrale für politische Bildung. Problempunkte seien etwa der mangende Wille, Reformen umzusetzen und die mangelnde Unabhängigkeit der Richter.
Zu Beginn der russischen Invasion in die Ukraine hat Selenskyj die Arbeit pro-russischer Oppositionsparteien und -politiker verboten – er stützt sein Vorgehen mit dem Kriegsrecht. Auch Fernsehsender sind davon betroffen. In Kriegszeiten ist so etwas auch üblich: Schließlich haben Regierung und Militär genug mit russischen Soldaten zu tun. Innenpolitische Kämpfe sind in solchen Zeiten nicht angebracht.
Allerdings hat der ukrainische Präsident bereits 2021 prorussische Oppositionssender verboten und damit die Pressefreiheit in der Ukraine eingeschränkt. Zudem hat eine Studie des Think Tanks Chatham House 2021 die ukrainische Medienlandschaft betrachtet. Das Ergebnis: Die Medienlandschaft ist zwar sehr divers, aber ein großer Teil der Medien liegt noch immer in der Hand von Oligarchen, denen es vor allem um politischen Einfluss geht.
Wäre die Ukraine bereits jetzt Mitglied der Europäischen Union, wären die Mitgliedsstaaten per Abkommen dazu verpflichtet, dem Land im Krieg auch militärisch beiseite zu stehen. Hier würde der sogenannte Bündnisfall greifen.
Der ist in Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrags festgeschrieben:
Allerdings ist die Ukraine kein Mitglied. Und das wird sie auch so schnell nicht sein.
"Es geht jetzt erst mal nur um den Kandidatenstatus", schreibt Tanja Börzel auf watson-Anfrage. "Die nächste Stufe ist die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen. Erst wenn die erfolgreich abgeschlossen sind, erfolgt der Beitritt."
Ihr zufolge ist es aber extrem unwahrscheinlich, dass das in den nächsten Jahren passiert. "Selbst wenn sich der Krieg nicht hinzieht."