Der Amtisnhaber muss bangen: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei einer Rede im Februar. Bild: ap / Sarah Meyssonnier
Analyse
Populismus, Frust und Hoffnung: Vier Gründe, warum die Präsidentschaftswahl in Frankreich so spannend ist
Wer in Frankreich regiert, beeinflusst auch die deutsche Politik, junge Menschen sind frustriert, aber engagiert – und es ist die wichtigste Wahl seit Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine.
Es ist die bisher bedeutendste europäische Wahl des Jahres. In Frankreich wählen die Bürgerinnen und Bürger ab dem kommenden Sonntag, den 10. April, ihr neues Staatsoberhaupt. Es ist der erste Durchgang der Präsidentschaftswahl. Eine zweite Runde wird zwei Wochen später stattfinden, am 24. April – wenn keine Kandidatin oder kein Kandidat in der ersten Runde mehr als 50 Prozent der Stimmen bekommt.
Der Favorit ist der Amtsinhaber: Emmanuel Macron, seit 2017 Präsident, liegt in den meisten Umfragen vorne. Macrons Vorsprung ist aber in den Tagen vor der Wahl geschmolzen. Die Wahrscheinlichkeit, dass seine aussichtsreichste Konkurrentin, die Rechtspopulistin Marine Le Pen, am Ende gewinnt, ist gestiegen.
Ein Sieg Le Pens wäre ein politisches Erdbeben, für Frankreich wie für den Rest Europas. Le Pen steht für Skepsis gegenüber Europäischer Union und Nato, jahrelang ist sie mit viel Sympathie für den russischen Präsidenten Wladimir Putin aufgefallen. Den Überfall Russlands auf die Ukraine verurteilte Le Pen zwar – ihre Distanzierung zu Putin aber ist halbherzig.
Es gibt weitere Gründe, warum die Präsidentschaftswahl in Frankreich besonders spannend ist. watson fasst vier wichtige davon zusammen.
Frankreich hat viel Macht in der Europäischen Union
Die Europäische Union ist ein Mischwesen. Zum einen ist sie ein Staatenbund mit gemeinsamen Institutionen, die Entscheidungen treffen, die für Menschen in Lissabon wie in Helsinki gelten: das Europäische Parlament zum Beispiel, die Europäische Kommission.
Gleichzeitig bestimmen in mächtigen EU-Institutionen die einzelnen Nationalstaaten mit: im Rat der EU, wo die nationalen Minister abstimmen – und auf dem EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs. Und gerade in diesen Gremien hat Frankreich viel Macht.
Der französische Präsident Emmanuel Macron und der deutsche Bundeskanzler OIaf Scholz beim EU-Gipfel am 10. März im französischen Versailles. Bild: dpa / Kay Nietfeld
Frankreichs Präsident führt faktisch die französische Regierung an. Wer dieses Amt innehat, beeinflusst somit auch, was in Europa passiert. Wenn der französische Präsident ein europäisches Projekt ablehnt, senkt er die Wahrscheinlichkeit, dass es Realität wird. Wenn er dafür ist, wird es hingegen wahrscheinlicher. Die Zustimmung Frankreichs und Deutschlands waren zum Beispiel im Jahr 2020 entscheidend für das europäische Corona-Rettungspaket, von dem vor allem das hart getroffene Italien profitierte.
Dazu kommt: Deutschland und Frankreich, vom 19. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Erzfeinde, sind heute enge Partner. Mit dem Aachener Vertrag haben beide Staaten 2019 außerdem eine noch engere Zusammenarbeit vereinbart.
Wer in Paris im mächtigsten Amt sitzt, hat also auch erheblichen Einfluss darauf, wie es Deutschland geht.
Sollte Le Pen die Wahl gewinnen, dürfte das die Europäische Union erschüttern: Die rechte Kandidatin setzt in ihrer Kampagne auf Nationalismus und Abgrenzung Frankreichs zu ihren europäischen Nachbarn.
Wenige junge Franzosen gehen wählen – obwohl den meisten von ihnen Wahlen wichtig sind
2017, bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen, hat über ein Drittel der Französinnen und Franzosen im Alter bis 30 nicht oder nur teilweise mitgemacht. Nur 62,4 Prozent der 18- bis 24-Jährigen gaben damals laut dem französischen Statistikinstitut INSEE bei beiden Wahlgängen ihre Stimme ab, bei den 25- bis 29-Jährigen waren es demnach sogar nur 58 Prozent. Zum Vergleich: Bei der Bundestagswahl in Deutschland 2021 lag die Wahlbeteiligung in allen Altersgruppen bis 30 Jahre bei über 70 Prozent.
Vor der französischen Präsidentschaftswahl 2022 deuten Erhebungen darauf hin, dass der "Abstentionisme", also die Wahlenthaltung, noch größer wird: Nur 53 Prozent der 18- bis 24-Jährigen sagen laut einer Umfrage im Auftrag der Zeitung "Le Monde", dass sie "auf jeden Fall" wählen gehen werden.
Was steckt hinter dieser niedrigen Wahlbeteiligung junger Menschen?
Für Albrecht Sonntag sind diese niedrigen Werte kein Grund für Alarmismus oder Angst vor dem Niedergang der französischen Demokratie. Der deutsche Soziologe arbeitet und lebt seit drei Jahrzehnten in Frankreich, er ist heute Professor für Europastudien an der ESSCA School of Management im westfranzösischen Angers. Ja, es gebe viel "Desillusion und Frustration" in der französischen Gesellschaft, sagt Sonntag gegenüber watson. Die sei allerdings verteilt über die Generationen und kein spezielles Phänomen der jungen Generation.
Das bestätigt auch eine neue Studie des Pariser Think-Tanks Institut Montaigne: Ihr zufolge lässt sich in Frankreich keine "Spaltung zwischen den Generationen" feststellen. Laut der Studie lassen sich die jungen Französinnen und Franzosen zwischen 18 und 24 in vier Gruppen aufteilen.
Die größte davon umfasst demnach 39 Prozent dieser Altersklasse: Dabei handelt es sich um junge Menschen, die eine starke Tendenz dazu haben, gegen Missstände zu protestieren – sich aber auch überdurchschnittlich an demokratischen Prozessen beteiligen.
Frustriert ja, unpolitisch nein: Ein Erzieher bei einem Streik in der französischen Stadt Toulouse. Bild: www.imago-images.de / Alain Pitton
Dass sich so wenige junge Menschen an Präsidentschaftswahlen beteiligen, liegt laut dem Soziologen Sonntag eher an bürokratischen Hürden, die viel höher als in Deutschland sind. Anders als im Nachbarland müssen sich junge Menschen in Frankreich aktiv ins Wahlregister ihrer Heimatgemeinde eintragen lassen – und es gibt bisher keine Möglichkeit zur Briefwahl. Das erschwert vor allem Studierenden die Wahl, die in eine andere Stadt gezogen, dort aber nicht mit dem Hauptwohnsitz gemeldet sind – und Französinnen und Franzosen, die im Ausland leben.
Außerdem verweist Sonntag darauf, dass wahlberechtigte junge Menschen in Frankreich sich häufig eine Art "Latenzzeit" geben: Sie lassen ein paar Jahre verstreichen, bis sie tatsächlich an Wahlen teilnehmen. Grundsätzlich ist die Zustimmung zu demokratischen Wahlen auch bei jungen Französinnen und Franzosen groß: Laut der (mit rund 8.000 Teilnehmenden außergewöhnlich breit angelegten) Jugendstudie des Institut Montaigne stimmen zwei Drittel der jungen Menschen in Frankreich zwischen 18 und 24 Jahren der Aussage zu: "Es ist nützlich zu wählen, weil man durch Wahlen Fortschritte erreichen kann".
Die Autoren der im Februar dieses Jahres veröffentlichten Studie warnen ausdrücklich davor, ein zu pessimistisches Bild der französischen Jugend zu zeichnen: Die Ergebnisse zeigten, dass "die jungen Französinnen und Franzosen alles in allem über sich sagen, glücklich zu sein, trotz der Schwierigkeiten, mit denen sie zu tun haben".
Eine besorgniserregende Tendenz stellt die Studie allerdings fest: 22 Prozent der 18- bis 24-Jährigen halten Gewalt für gerechtfertigt, um die eigenen politischen Einstellungen zu verteidigen oder die eigene Wut auszudrücken. Das sei ein bemerkenswert hoher Wert.
Die wichtigste europäische Wahl seit dem russischen Überfall auf die Ukraine
Der Überfall des Putin-Regimes auf die Ukraine hat den politischen Alltag in Europa durcheinandergewirbelt. Und er hat längst Folgen, die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Alltag spüren: steigende Preise für Gas und Benzin, für Obst, Gemüse und Brot, in Palermo wie in Stockholm. Und eben auch in Paris, Lyon und Straßburg.
Die französische Präsidentschaftswahl ist der wichtigste Urnengang in Europa seit Kriegsbeginn. Die zwei aussichtsreichsten Kandidierenden gehen damit ganz unterschiedlich um. Amtsinhaber Macron ist seit Wochen als Vermittler unterwegs, er telefoniert als einer der wenigen westlichen Staatschefs regelmäßig mit Putin. Da Frankreich gerade dem EU-Ministerrat vorsitzt, inszeniert sich Macron als Repräsentant der Interessen der Europäischen Union in Richtung Osten. Den Wahlkampf in der Heimat hat er darüber schleifen lassen.
Seine Konkurrentin Le Pen dagegen ist auf Dauerwahlkampf: Sie spricht seit Wochen darüber, was der Krieg in den Geldbeuteln der Menschen in Frankreich bewirkt. Ihr Ziel sei es, "vor allem die Kaufkraft der Franzosen zu verteidigen", das sagt Le Pen immer wieder in diesen Tagen. Das Grauen des russischen Kriegs gegen die Ukraine erwähnt Le Pen kaum. Dass sie selbst jahrelang eine der treuesten Verbündeten Putins war, verschweigt sie momentan auch. Andererseits sagt sie, wenn der Krieg vorbei sei, könne Frankreich wieder ein Bündnis mit Russland eingehen.
Marine Le Pen auf Wahlkampf auf dem Markt im südfranzösischen Narbonne. Bild: ap / Joan Mateu Parra
Ist eine Mehrheit der Französinnen und Franzosen am Ende bereit, Le Pen zu wählen? Obwohl sie Putin unterstützt hat – oder vielleicht sogar deshalb? Oder setzt sich doch wieder Macron mit seiner staatstragenden, pro-europäischen Rhetorik durch?
Die Antworten werden die Französinnen und Franzosen geben.
Frankreich ist ein Land nach der politischen Kernschmelze
Zwei Parteien hatten jahrzehntelang die Politik in Frankreich dominiert: links die Sozialisten, rechts die Konservativen. Seit 1958 die Verfassung der sogenannten fünften Republik in Kraft getreten war, stellten die beiden Parteien im Wechsel die Präsidenten.
Bis 2017.
Bei der vergangenen Präsidentschaftswahl scheiterten die Kandidaten sowohl der Konservativen als auch der Sozialisten schon in der ersten Runde. In die Stichwahl kamen: Macron und Le Pen. Es war eine Kernschmelze für das politische System, eine Zeitenwende in einer der traditionsreichsten Demokratien Europas.
Fünf Jahre danach geht die Krise des Systems weiter. Es ist viel in Bewegung. Macron und Le Pen sind auch 2022 wieder die aussichtsreichsten Kandidierenden für die Präsidentschaft. Hinter den beiden können sich zwei weitere populistische Kandidaten Aussichten machen, in der ersten Runde mehr als 10 Prozent der Stimmen zu bekommen: der Rechtsextremist Eric Zemmour und der Linksradikale Jean-Luc Mélenchon.
Andererseits regieren in den Regionen und in den Städten weiterhin Vertreter der traditionellen Parteien, Sozialisten und Konservative – und die französischen Grünen werden stärker.
Es gebe in Frankreich "parallele Realitäten", sagt Soziologe und Frankreich-Experte Albrecht Sonntag. Zum einen gebe es im Land eine "Obsession" mit dem Amt des Präsidenten – während die wichtigen Parlamentswahlen nur einen Bruchteil der Aufmerksamkeit bekämen. Sonntag meint: "Das System der fünften Republik liegt wie eine Zwangsjacke über dem Land." Es sei "eine einzige riesige Frustrationsmaschine".
Dass die Parteienlandschaft einerseits im Umbruch ist, aber dabei andererseits wenig wirklich vorangeht, hat viel mit der Dauerkrise im Land zu tun. Sonntag spricht von einem "bodenlosen Misstrauen in Institutionen aller Art". In Frankreich seien die Vertrauenswerte für Präsident, Parteien, aber auch für Militär und Polizei etwa 20 Prozentpunkte schlechter als in vergleichbaren europäischen Ländern wie Deutschland oder Italien. Am schlechtesten schnitten die Parteien ab.
Frankreich, stellt Sonntag fest, sei außerdem ein Land, "das Ohrfeige nach Ohrfeige kriegt": die islamistischen Terroranschläge von 2015 in Paris, 2016 in Nizza, viele weitere tödliche Attentate, die es in Deutschland nur als kleine Meldungen in die Medien schaffen, in Frankreich aber Verunsicherung, Angst und Wut schüren.
Nationales Trauma: Trauernde Menschen im November 2015 vor dem Theater Bataclan in Paris, nach den Terroranschlägen, bei den über 130 Menschen getötet wurden. Bild: dpa / Malte Christians
Dazu kommt, dass die Bevölkerung in Frankreich zum einen traditionell einen großen Wert auf soziale Gerechtigkeit lege. Die "Égalité", die Gleichheit, war einer der drei Grundsätze der Französischen Revolution im Jahr 1789. In der Realität sind die sozialen Gegensätze im Land erheblich: zwischen wirtschaftlich boomenden Regionen und niedergegangenen Industrierevieren, zwischen dem Zentrum der Hauptstadt Paris und den maroden Vorstädten, den Banlieues.
Soziologe Sonntag fasst es so zusammen: "Frankreich leidet am real existierenden Kapitalismus."
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