Am 7. Oktober tötete die Terrorgruppe Hamas mehr als 1400 israelische Zivilist:innen, darunter auch viele Kinder. Bild: imago images
Analyse
Im Gazastreifen tobt ein Krieg zwischen Israel und der Hamas. Doch wo sitzen eigentlich die Köpfe der palästinensischen Terrororganisation?
Yasmin Müller / watson.ch
Bilder, die es derzeit aus dem Gazastreifen herausschaffen, lassen den Schrecken der palästinensischen Zivilbevölkerung vor Ort höchstens ansatzweise erahnen. Sie zeigen ein Land in Schutt und Asche.
Diese Bilder zeugen von einem jahrzehntealten Konflikt, einer Spirale von Hass und Gewalt, die am 7. Oktober 2023 eine erneute Eskalation erfuhr: In einem fürchterlichen, brutalen Angriff hatte die Terrororganisation Hamas über 1400 israelische Babys, Frauen und Männer getötet und entführt. Es war der verheerendste Angriff auf Israel seit 50 Jahren.
Seither beschießen die israelischen Verteidigungskräfte (IDF) den Gazastreifen mit Rakete um Rakete. Das Ziel dabei: die terroristische Hamas auszulöschen.
Einige Coups sind der IDF bereits gelungen. Der Hamas-Luftwaffenchef, Kerad Abu Merad, und der Hamas-Kommandant Ali Qadhi sollen laut israelischen Angaben tot sein. Doch wer sind eigentlich die Köpfe der Hamas? Und haben die sich wirklich alle im Gazastreifen verkrochen?
Hamas und al-Qassam-Brigaden
Hamas ist ein Akronym und steht für Harakat al-Muqawama al-Islamiya. Übersetzt heißt das: Islamische Widerstandsbewegung.
Gegründet wurde die Hamas im Jahr 1987, und zwar als regionaler Ableger der Muslimbruderschaft im Gazastreifen. Seit ihrer Entstehung kämpft die Hamas gegen den Staat Israel, den sie auslöschen will. Dieses Ziel ist das wesentliche Merkmal der Hamas-Ideologie und unterscheidet die Bewegung von anderen Palästinenser-Organisationen wie der Fatah, die einen eigenen Staat im Westjordanland und dem Gazastreifen mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt fordert. Ein Führer der Hamas, Chaled Maschal, sagte 2017:
"Wir werden keinen Zentimeter des palästinensischen Heimatbodens aufgeben. Egal, wie groß der jüngste Druck ist, und egal, wie lange die Besatzung dauert."
Um dieses Ziel zu erreichen, unterhält die Hamas zum einen seit ihrer Gründung Schulen, die häufig von anderen arabischen Staaten finanziert werden. In diesen gehören Antisemitismus und bewaffneter Dschihad zum Lehrplan. Und anfangs trat die Hamas als Wohltätigkeitsorganisation auf und gründete neben den Schulen auch andere soziale Einrichtungen.
Palästinensiche Kinder auf dem Weg in die Schule.Bild: imago images / Mahmoud Issa
Zum anderen baute die Hamas mit der Zeit einen bewaffneten Arm auf. Die wohl bekannteste Gruppierung dieses militärischen Teils sind die Izzaddin al-Qassam-Brigaden. Die al-Qassam haben sich im Laufe der Jahre ein breites terroristisches Repertoire angeeignet. So führen sie Selbstmordattentate und Raketenangriffe auf Israel aus oder sind auf Entführungen israelischer Soldaten oder derer Angehörigen spezialisiert. Unter anderem darum wird die Hamas von den Staaten der Europäischen Union oder den USA als Terrororganisation eingestuft.
Hamas-Terroristen bei einer Parade in Gaza. Bild: imago images / Yousef Masoud
Gleichzeitig versuchte sich die Hamas bereits seit Beginn auch innerpalästinensisch gegen die Fatah-Bewegung bzw. die Palästinensische Befreiungsfront (PLO) durchzusetzen. 2006 gelang ihr das in Teilen, als sie zur regierenden Partei im Gazastreifen gewählt wurde. Nach heftigen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Hamas und der Fatah übernahm die Hamas 2007 vollends die politische Kontrolle über den Gazastreifen. Israel verhängte daraufhin eine Blockade über das dicht besiedelte Küstengebiet, wo auf 365 Quadratkilometern mehr als zwei Millionen Menschen leben.
Als Gründerin von sozialen Einrichtungen und Schulen, Ausführerin von Anschlägen und politische Partei gleichermaßen unterhält die Hamas komplizierte Strukturen und mehrere Institutionen. Dabei wäre es eine Illusion, dass der Öffentlichkeit alle führenden Köpfe der Hamas und ihrer Unterorganisationen bekannt wären.
Ismail Haniyeh
Einer der wichtigsten politischen Führer der Hamas: Ismail Haniyeh.Bild: AP / ADEL HANA
Ismail Haniyeh ist Vorsitzender des Politbüros der Hamas und somit "Chef" des politischen Arms der Organisation.
Gewählt hat ihn in dieses Amt der sogenannte Schura-Rat, ein Gremium aus 77 Personen, welches das 15-köpfige Politbüro wählt. Das Politbüro wiederum ist die oberste Entscheidungsinstanz der Hamas. Seit 2022 sitzen auch Verantwortliche der Qassam-Brigaden im Politbüro.
Am 7. Oktober kursierte ein Video auf Social Media, das Haniyeh zeigt, wie er in seinem eleganten Büro den blutigen Angriff auf Al Jazeera verfolgt und seinen Schergen zujubelt.
Bis vor rund zwei Jahren lebte der Hamas-Führer zusammen mit seiner Familie in Gaza. Dann siedelte er nach Doha über, wo er in einem Luxushotel residieren soll.
Bereits während seiner Zeit in Gaza soll Haniyeh ein Millionen-Vermögen angehäuft haben. Laut der ägyptischen Zeitschrift Rose al-Yusuf hat Haniyeh im Jahr 2010 vier Millionen US-Dollar allein für ein Grundstück am Strand von Gaza ausgegeben. Seither habe der Hamas-Führer im Gazastreifen mehrere Villen und Gebäude gekauft, die er auf die Namen einiger seiner 13 Kinder eingetragen haben soll. Dieser vermutete üppige Besitz steht im krassen Gegensatz zur Lebensrealität so mancher Palästinenser.
Aber nicht nur Haniyeh selbst profitiert, nein, seine ganze Familie profitiert von der Sonderstellung des Vaters. Während die meisten Bewohner des Gazastreifens ihre Heimat nicht verlassen können, reisen Haniyehs Söhne angeblich regelmäßig in die Türkei, wo sie in Immobilien investieren sollen. Im Juli 2022 wurde in den palästinensischen sozialen Medien ein Dokument geteilt, das wohl eine offizielle Auflistung von Personen zeigt, die eine Reiseerlaubnis über den Grenzübergang Rafah haben. Unter ihnen zum Beispiel Haniyehs Sohn Hazem, sowie dessen Frau und Kinder.
Die Enthüllung löste eine Kampagne gegen die Hamas-Führung aus unter dem Motto "Unsere Hände sind sauber" – eine Seltenheit im Gazastreifen, wo politische Meinungsverschiedenheiten im Allgemeinen nicht toleriert werden.
Das Motto der Kampagne referierte auf eine Rede von Haniyeh zum 22. Jahrestag der Gründung der Hamas, in der er sagte:
"Unsere Hände sind sauber. Wir stehlen keine Gelder, besitzen keine Immobilien und bauen keine Villen …"
Mohammed Deif
Während Haniyeh sich gerne mit internationalen Politikern zeigt, gleicht der Chef des militärischen Arms der Hamas, Mohammed Deif, einem Phantom. Deif kommandiert die Qassam-Brigaden etwa seit Anfang der 2000er-Jahre. Er ist es auch, der hinter dem Anschlag vom 7. Oktober steckt. Kaum jemand kennt sein Gesicht, geschweige denn seinen Aufenthaltsort.
NZZ-Auslandsredakteur Ulrich Schwerin sagt über Deif: "Bereits sieben Anschläge auf sein Leben soll Mohammed Deif überlebt haben." Ein Auge habe er dabei verloren, sowie andere Körperteile. Seine Frau und seine beiden Kinder sind tot.
Die schizophrene Rolle Katars
In Katar lebt nicht nur Ismail Haniyeh. Ein Großteil der politischen Elite der Hamas wohnt im Golfstaat. Denn obwohl das Politbüro den Gazastreifen regiert, hat es seinen Sitz nach Doha verlagert, die Hauptstadt von Katar. Weitere Hamas-Funktionäre sollen im Libanon oder der Türkei residieren.
Ebenfalls in Katar lebt Chaled Maschal, der Vorgänger Haniyehs. Im Dezember 2012 reiste Maschal in den Gazastreifen ein, um an Jubiläums-Feierlichkeiten der Hamas teilzunehmen. Es war das erste Mal seit 45 Jahren, dass er palästinensisches Gebiet betrat.
Chaled Maschal, ein politischer Führer der palästinensischen Terrororganisation Hamas.Bild: imago images / Momen Faiz
Auch Sami Abu Zuhri, ein Sprecher der Hamas, und Tahar al-Nounou, der Berater von Haniyeh und ebenfalls ein Sprecher der Hamas, leben in Katar.
Katar nimmt eine sehr obskure Rolle ein im Israel-Hamas-Krieg. Zum einen beherbergt das Land die Funktionäre der Terrorgruppe, zum anderen tritt es als Vermittler auf. US-Präsident Joe Biden würdigte sogar die Rolle Katars bei der Freilassung der beiden Hamas-Geiseln am vergangenen Montag.
Dieses schizophrene Dasein ist aber nicht allen entgangen. Der ehemalige israelische Premierminister, Naftali Bennett, sagte:
"Die israelische Regierung begeht einen schwerwiegenden moralischen und praktischen Fehler. Katar ist kein wesentlicher Partner für humanitäre und diplomatische Operationen."
Er fügte hinzu:
"Katar ist selbst ein Feind. Es finanziert die Hamas. Israels erklärtes Ziel ist es, die Hamas zu zerstören. Katars Ziel ist genau das Gegenteil: die Hamas zu retten."
Katar führt die Liste der Geber-Länder für Gaza an – die Golfmonarchie hat im letzten Jahrzehnt schätzungsweise über 1.5 Milliarden US-Dollar gespendet. Doch bei der Bevölkerung scheint davon nicht viel angekommen zu sein.