Seit einem Monat ist Javier Milei der neue Präsident Argentiniens. Er boxte sich aus dem politischen Abseits bis hoch an die Spitze des Landes.Bild: imago images / Ricardo Pristupluk
Analyse
Kettensäge, wilde Mähne, feurige Augen – wie aus dem Nichts steht plötzlich diese schrille Person auf der politischen Bühne Argentiniens und übernimmt das Ruder. Javier Milei ist seit dem 10. Dezember 2023 der neue Präsident des südamerikanischen Landes.
Mit seinen fragwürdigen Auftritten und umstrittenen Aussagen macht er dem ehemaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro den Titel des "Trump von Südamerika" streitig.
Der rechtspopulistische Javier Milei übernimmt die Führung in Argentinien.Bild: imago images / Cristobal Basaure Araya
Expertenstimmen bezeichnen den Argentinier als "rechtspopulistisch", "ultrakonservativ" sowie "ultraliberal". Er selber nennt sich "König des Dschungels", einen "Anarchokapitalisten". Im Wahlkampf schwenkte er mit der Kettensäge um sich: Er will die Sozialausgaben radikal kürzen und den Staat umbauen.
Javier Milei, selbst ernannter "Anarchokapitalist" bei einer Wahlkampfveranstaltung.Bild: AP / Natacha Pisarenko
Er schwärmt von Donald Trump, nennt den Papst einen "Kommunisten", bejubelt den Organhandel und seine geklonten Hunde dienen als seine "besten Berater". Seine Gegner:innen nennen ihn "El loco", den Durchgeknallten.
Wie verzweifelt muss das argentinische Volk sein, um einen wie Milei zum Präsidenten zu wählen?
Argentinien: Wirtschaft liegt am Boden, galoppierende Inflation
Preiserhöhungen, Währungsverfall, hohe Staatsschulden – Argentinien steckt in einer katastrophalen Wirtschaftskrise. Milei machte sich das im Wahlkampf wohl zunutze.
Direkt nach Amtsübernahme von Milei hat es eine starke Abwertung des Peso in Argentinien gegeben.Bild: dpa / Claudio Santisteban
"Die argentinische Gesellschaft ist erschöpft, sah keine Zukunftsperspektive mit der vorherigen Regierung", sagt Politikwissenschaftler Günther Maihold im watson-Gespräch. Er forscht bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und lehrt als Professor an der Freien Universität Berlin. Sein Schwerpunkt: Lateinamerika.
Laut ihm hat sich Argentinien immer mehr in einen Korruptions-, Verschuldungs- und Inflationsknoten verwickelt. Milei bot sich an, diesen Knoten zu durchschlagen. "Die Menschen dachten sich: Das ist, was wir brauchen, ohne genau zu wissen, was es ist", meint Maihold.
Nun – nach einem Monat Milei – bekommen sie seine angekündigte "Schocktherapie" zu spüren.
Maihold zufolge betreibt der argentinische Präsident einen Frontalangriff – nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern auch gegen die Institutionen und Formen des Zusammenlebens.
Zum Hintergrund: Milei hat dem Nationalkongress einen umfangreichen Gesetzentwurf vorgelegt. Das Parlament soll demnach für zwei Jahre weitgehende Befugnisse an den Präsidenten abtreten. Das sogenannte "Omnibus-Gesetz" umfasst praktisch alle Bereiche des öffentlichen Lebens und würde der Exekutiven (der Regierung und Verwaltung) einen enormen Einfluss geben.
Will den Staat in Argentinien radikal ändern: Javier Milei.Bild: imago images / Cristobal Basaure Araya
Beim "Omnibus-Gesetz" werde es zu Auseinandersetzungen mit dem Parlament kommen, sagt Maihold. Denn der ultraliberale Populist verfügt im Parlament über keine eigene Mehrheit, müsste also Allianzen schmieden und Kompromisse eingehen. "Das wird zur Kraftprobe", meint der Experte.
Mithilfe einer Notverordnung will Milei zudem viele Gesetze außer Kraft setzen, etwa Privatisierungsreglungen voranbringen oder die Arbeitsschutzvorgaben lockern. Doch wie weit ist die argentinische Gesellschaft bereit, mitzugehen? "Wenn es an die Gewaltenteilung geht und Mileis Vorhaben, etwa das Parlament auszuschalten – das könnte dann auch seinen Wählern zu weit gehen", führt der Experte aus. Die Frage werde dann sein, ob Milei einlenkt.
"Während des Wahlkampfes wurde oft diskutiert, ob Milei wahnsinnig sei und wenn ja, wie wahnsinnig. Seit der Amtsübernahme agiert er aus meiner Sicht rational und versucht, umzusetzen, was er angekündigt hat", meint Susanne Käss auf watson-Anfrage. Dafür nutze Milei die ihm zur Verfügung stehenden Instrumente. Käss ist Leiterin des Auslandsbüros Argentinien für die CDU-nahe Konrad-Adenauer Stiftung.
Im Wahlkampf konnte Milei die Bevölkerung mitreißen. Bild: AP / Mario De Fina
Laut ihr wurden die Präsidialdekrete wegen Dringlichkeit (DNU) mit der Verfassungsänderung von 1994 eingeführt und seither von allen Präsidenten genutzt. Käss bewertet die Dekrete dennoch kritisch, weil sie Kompetenzen vom Nationalkongress auf den Staatspräsidenten übertragen und somit die Gewaltenteilung verwässern.
Aber sie gibt Entwarnung:
"Ich schätze jedoch die argentinische Demokratie als stark und wehrhaft ein und mache mir daher keine allzu großen Sorgen, da Milei nicht um genügend Rückhalt verfügt, um gegen die Verfassung und die Gesetzte agieren zu können."
Dennoch: Käss mache sich große Sorgen um die Zukunft des Landes. Sie befürchtet einen wirtschaftlichen Kollaps mit schwerwiegenden sozialen Konsequenzen.
Laut Maihold stehen die Höhepunkte der Auseinandersetzungen erst noch bevor. Ende Januar läuft die Frist der Sondersitzungen des Parlaments aus und man wird sehen, ob Milei seine Dekrete durchsetzen kann und falls nicht, wie er dann reagiert.
Denn: Verhandlungen und Kompromisse gehören offensichtlich nicht zu seinen Stärken.
Milei könnte schnell wieder vom Thron fallen
Bisher lautet Mileis Devise: Wir verhandeln nichts. "Er müsste hier eine Kehrtwende bei sich selber einschlagen. Sprich, er findet die Einsicht, das Verhandlungen ein sinnvolles Instrument sind, um seine Reformen durchzusetzen", sagt Maihold.
Auf der anderen Seite drohe Milei durchaus, dass die Argentinier:innen seine Stellung infrage stellen. "Dann stehen Rücktritt oder Absetzung auf der Tagesordnung." Käss befürchtet, dass sich viele Sektoren in der Politik darauf konzentrieren, Milei scheitern zu lassen. "Es ist sehr gut möglich, dass er sich nicht für vier Jahre im Amt halten kann", prognostiziert sie.
Javier Milei hat ein schweres Erbe übernommen: Argentinien ist bankrott.Bild: imago images / Xinhua
"Man kann jetzt nur hoffen, dass es nicht zu einer massiven Eskalation kommt", meint Maihold. Denn die Lage für die Menschen im Land ist dramatisch.
Argentinien: Inflation bringt Menschen an den Rand der Verzweiflung
Laut "Buenos Aires Times" herrschte in Argentinien Ende 2023 eine Inflationsrate von 160 Prozent. "Bereits jetzt liegt die Armutsrate in dem einst so reichen Argentinien bei über 40 Prozent und die Sozialsysteme, die über lange Zeit ein Garant für Wohlstand waren, ächzen", sagt Käss.
Sowohl das Gesundheits- als auch das Bildungssystem haben mit enormen Problemen zu kämpfen. Zudem ziehen die Kosten für Lebensmittel kräftig an. Um das Haushaltsdefizit zu finanzieren, druckte die Zentralbank bisher ständig frisches Geld. Milei will Argentinien mit einem radikalen Sparprogramm nun wieder auf die Beine bringen.
Doch laut Maihold ist das "eine Wette mit der Zeit".
Milei warne zwar, dass die Inflation trotz seiner Maßnahmen zunächst hoch bleiben werde. Erst ab März werde man erste Erleichterungen sehen. "Milei meint, er bräuchte zwei bis vier Jahre, um das ganze System in Ordnung zu bringen. Aber dafür rennt ihm wohl die Zeit davon", führt Maihold aus. Denn: Die Menschen spüren jetzt die schwerwiegenden Folgen der Inflation.
Obdachlose auf den Straßen Argentiniens. Viele können die hohen Preise im Land nicht mehr stemmen.Bild: AP / Natacha Pisarenko
Laut des Experten steht Milei vor dem Mammutprojekt, die Schulden des Landes zu bewältigen und die leeren Kassen, die ihm übergeben wurden, zu füllen. "Dabei folgt Milei der Logik: Der Markt wird es richten", sagt er. Aber diese Annahme sei problematisch.
Maihold sagt:
"Die Bevölkerung erwartet vom Staat Abfederungsmaßnahmen und wenn jetzt alle öffentlichen Tarife, Subventionen gekürzt werden, trifft das die Menschen extrem in ihrem Alltag. Die Geduld der Argentinier läuft vielleicht aus, bevor eine rein marktbasierende Anpassungspolitik Wirkung zeigt."
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Bereits jetzt sieht man laut Maihold erste Widerstände in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Käss zufolge hat Milei ein herabgewirtschaftetes Land mit negativen Nettoreserven übernommen, also ein bankrottes Land mit sehr teuren Sozialsystemen. Den Ursprung der wirtschaftlichen Probleme sehen Expert:innen in der hohen Staatsverschuldung und dem aufgeblähten und korrupten Staatsapparat.
Ob Mileis Maßnahmen Abhilfe schaffen, ist laut Käss nur schwer abschätzbar. Das Wirtschaftssystem in Argentinien sei aufgrund der Überregulierung und zahlreichen sich beeinflussenden Gesetze so komplex, dass selbst Expert:innen keine Prognose wagen.