Geflüchtete an der polnisch-belarussischen Grenze (Archivbild November 2021).Bild: TASS / Belarus State Border Committee
International
Ukrainerinnen und Ukrainer werden in Polen mit offenen Armen empfangen. Gleichzeitig bleibt die Grenze zu Belarus für Geflüchtete fest verschlossen. Die Gewalt dort nimmt zu. Wie passt das zusammen?
03.07.2022, 16:0004.07.2022, 18:39
Hungrig, durstig und erschöpft – täglich kommen hunderte Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze in genau diesem Zustand an. Menschen aus dem Irak, aus Syrien oder Afghanistan. Nach einer langen und beschwerlichen Flucht stehen sie dann dort: an der EU-Außengrenze von Polen. Ihnen gegenüber auf der einen Seite belarussische Soldatinnen und Soldaten und auf der anderen Seite polnische Grenzwächter und Grenzwächterinnen. Dazwischen: seit Kurzem ein meterhoher, stabiler Grenzzaun.
Ein Vor oder Zurück gibt es nicht.
Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki am Grenzzaun zwischen Polen und Belarus Ende Juni.Bild: AA / Artur Widak
Wenige Kilometer weiter sieht die Situation anders aus: Hier dürfen geflohene Ukrainerinnen und Ukrainer ohne größere Probleme über die Grenze. Bekommen Asyl. Sie werden quasi mit offenen Armen empfangen. In den ersten zwei Wochen nach dem Angriff Russlands auf sein Nachbarland, am 24. Februar, flüchteten rund 1,5 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer nach Polen.
Das Kriegsgeschehen löste eine Welle der Hilfsbereitschaft aus. Privatmenschen bieten den Geflüchteten ihre Wohnungen als Unterkünfte an, holen sie von der Grenze ab, helfen ihnen beim Ausfüllen von Dokumenten.
Polen, was geht?
Was ist da eigentlich los in unserem Nachbarland?
Was bedeutet der Angriff auf den Rechtsstaat der nationalistischen PiS-Regierung für die Menschen vor Ort? Wie verwurzelt ist die Regierungspartei in der Bevölkerung? Wieso sind die Polen so wie sie sind? Wer sind sie überhaupt, "diese Polen"? Und wo steuern wir mit der Staatengemeinschaft EU hin?
In einer mehrteiligen Serie nimmt sich die watson-Politikredaktion dieser Fragen an, stellt Polen und seine Geschichte vor – und ordnet die aktuellen Probleme ein.
Serienteil 1:
Eskalation an der Grenze, Streit um Verfassung, Frauenrechte: So erlebt ein Student die Krisen in Polen
Serienteil 2:
Die Demokratie schwankt: Wie ist Polen da hingekommen? Ein Blick in die Vergangenheit
Serienteil 3:
Ein Staat und seine Krisen: Das ist Polens Rechtssystem – und darum könnte das Land zu einer Autokratie werden
Serienteil 4: Reportage - Polen und seine Menschen,
Kapitel 1:
Bröckelnde Macht – über die katholische Kirche, ihren Einfluss auf das Leben aller und zweifelnde junge Gläubige
Kapitel 2:
Zone der Schande – über Waldengel, Geflüchtete in Not und die Grenzpolizei
Kapitel 3:
Schrei nach Liebe – über Wut, Müdigkeit, Frauen und ihre GegnerUngleichbehandlung an Polens Grenzen
Gert Röhrborn, Politologe und freier Autor beim Zentrum Liberale Moderne in Warschau, beobachtet eine Ungleichbehandlung von Geflüchteten an Polens Grenzen. "Das überwältigende Ausmaß der Hilfsbereitschaft unzähliger Polinnen und Polen hat sicherlich viele Gründe. Die wichtigsten haben aber vermutlich mit Polens Geschichte zu tun", erklärt er auf Anfrage von watson.
Damit meint der Experte zum einen den Überfall des nationalsozialistischen Deutschlands auf Polen am 1. September 1939, mit dem der Zweite Weltkrieg in Europa begann. Und zum anderen die sowjetische Besetzung des Landes aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts, wodurch zahlreiche Verbrechen am polnischen Volk verübt wurden.
Röhrborn meint:
"Die Hilfsbereitschaft für die Ukrainerinnen und Ukrainer ist also vielleicht so etwas wie eine erneute Bewältigung des historischen Traumas durch eine aktive Überwindung der eigenen Opferrolle und der Versuch, 'es den Russen endlich irgendwie heimzuzahlen'."
Eine Doppelmoral an den Grenzen Polens kann auch Klaus Ziemer, Politikwissenschaftler und ehemaliger Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Warschau, auf watson-Anfrage bestätigen. Bei der Aufnahme von Geflüchteten zum einen aus der Ukraine und zum anderen aus anderen Ländern, wie dem Nahen Osten, seien doppelte Standards unübersehbar. Sowohl auf Seiten der Regierung, wie auch auf Seiten der Mehrheit der polnischen Bevölkerung, meint der Experte.
Piotr Arak, der Direktor des Polnischen Wirtschaftsinstituts in Warschau, sieht in seinem Land hingegen keine Ungleichbehandlung. Die Polen hätten allen Menschen, unabhängig der ethnischen Zugehörigkeit oder Religion geholfen. "Alle Migranten haben die gleiche Würde", sagt er auf Anfrage von watson. Polen eine Doppelmoral und rassistische Motive vorzuwerfen, sei "traurig und voreingenommen".
Leichensäcke sollten zum Weltflüchtlingstag in Polen die gestorbenen Flüchtlinge an der belarussischen Grenze symbolisieren.Bild: NurPhoto / Beata Zawrzel
Klaus Ziemer weist hingegen auf die Islamophobie hin, die durchaus eine Rolle in der Aufnahme von Asylsuchenden spiele. "Einwanderer aus dem Nahen Osten werden aufgrund ihrer anderen Kultur, insbesondere wegen des Islams, abgelehnt", sagt der Experte. Allerdings überrasche das Ausmaß der Sympathie, die ukrainischen Fliehenden seit dem russischen Angriff entgegengebracht werde, selbst die Polen.
Auch Gert Röhrborn sieht deutliche Unterschiede, die sowohl die Menschen als auch die Regierung in Polen zwischen Geflüchteten aus der Ukraine und aus anderen Ländern machten. "Die einen werden in Polen als 'echte Flüchtlinge' gesehen, vor allem Frauen und Kinder. Und die anderen als Wohlstandsmigranten, also schlicht 'Illegale'." An Polens Grenzen wird also klar zwischen Freund und Feind unterschieden.
Menschenrechtsverletzungen an der Grenze zu Belarus
Die "Feinde", die sich jetzt in der quasi ausweglosen Zone zwischen der belarussischen und polnischen Grenze befinden, sind dem falschen Versprechen des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko aufgesessen. Er benutzte vor allem im Jahr 2021 Menschen aus dem Nahen Osten, um Druck auf die EU auszuüben, sie zu destabilisieren. Der Autokrat machte ihnen Hoffnungen, über Minsk würde ein sicherer Weg nach Europa führen.
Im Sommer 2021 waren es täglich noch Tausende, im Winter wurden es aufgrund der niedrigen Temperaturen weniger. Aber seitdem die Temperaturen wieder gestiegen sind, ist auch die Zahl der Geflüchteten, die an der belarussisch-polnischen Grenze ankommen, wieder gestiegen. Ebenso die Gewalt der Grenzschützenden.
Röhrborn ist nicht überrascht von dem harten Vorgehen an der belarussisch-polnischen Grenze. Er sagt:
"Auf der Seite von Belarus haben wir es mit einer Diktatur zu tun, die nicht davor zurückschreckt, ihr eigenes Volk auf brutalste Weise niederzuknüppeln. Und auf der Seite Polens, mit einer demokratisch gewählten Regierung mit teils autoritären Tendenzen, die sich an der Grenze im Osten mit Spezialgesetzen einen de facto rechtsfreien Raum geschaffen hatte."
Mit dem rechtsfreien Raum meint Röhrborn unter anderem den Grenzzaun und die Tatsache, dass Polen Pushbacks im Oktober 2021 hat legalisieren lassen. Pushbacks sind in der EU illegale Zurückweisungen an Grenzen, ohne Prüfung eines Asylantrags. Jeder Mensch hat in der Wertgemeinschaft das Recht, einen Asylantrag zu stellen, sobald er den Boden der EU betreten hat.
In Polen werden hingegen fortlaufend Geflüchtete an der belarussischen Grenze immer wieder zurück in den Wald geschleppt, teils mit brutalen Methoden. Medien und Hilfsorganisationen hatten zu dieser Grenze keinen Zutritt: Polen hatte eine Sperrzone erlassen. Diese wurde Ende Juni aufgehoben.
Die EU prüft seit Monaten die polnische Legalisierung der Pushbacks. Zwar wurden eine Reihe an Verfahren wegen des Bruchs der Rechtsstaatlichkeit gegen Polen eingeleitet, allerdings bisher nicht wegen der Pushbacks.
"Die Doppelmoral ist kein isoliertes Problem Polens, sondern der EU als Ganzes."
Gert Röhrborn, Polenexperte und freier Autor
Die Bearbeitung dieser Verfahren sei laut Ziemer sehr zeitaufwändig. "Bei einer Abwägung, welche Rechtsverletzungen prioritär bearbeitet werden sollten, hat offenbar der Bruch des EU-Vertrags Vorrang vor der Verletzung von Menschenrechten", meint der Experte.
Röhrborn sieht das ähnlich. Er sei enttäuscht von dem Verhalten der EU und fügt hinzu:
"Die Kommission hat de facto die Augen ganz fest zugedrückt und ist trotz Lippenbekenntnissen zu den Menschenrechten vermutlich insgeheim froh darüber, dass die polnische Regierung für sie die schmutzige Arbeit erledigt."
Er meint, hätte die EU die Menschenrechte wirklich im Blick gehabt, dann hätte sie Asylsuchende an der belarussischen Grenze in andere EU-Länder verteilt. Und zwar noch bevor die polnische Regierung den Grenzzaun baut. Gerade im Vergleich mit Geflüchteten aus der Ukraine ist die Zahl der Menschen dort deutlich geringer.
Doppelmoral kein Problem Polens, sondern der EU
Polen hat nun sogar Hilfen bei der EU beantragt, um die ukrainischen Geflüchteten versorgen zu können. Es wäre eine Chance der EU-Mitgliedsstaaten spätestens hier Polen auf die Ungleichbehandlung an seinen Grenzen hinzuweisen. Doch so einfach sei dies nicht, sagt Röhrborn. "Die Doppelmoral ist kein isoliertes Problem Polens, sondern der EU als Ganzes."
Als wichtigstes Transitland für militärische Hilfe des Westens an die Ukraine sei Polen angesichts des russischen Angriffskrieges für die EU als Partner unverzichtbar, führt Ziemer aus. Deshalb sei es aktuell der falsche Zeitpunkt, um auf die Doppelmoral in der polnischen Flüchtlingspolitik aufmerksam zu machen.
In der aktuellen Situation sei es nicht zu rechtfertigen, das tragische Schicksal der ukrainischen Hilfesuchenden von der Behandlung anderer Geflüchteter durch Polen abhängig zu machen, sagt Röhrborn. "Trotzdem sollte die EU natürlich alles unternehmen, um das unsägliche Leiden an der belarussischen Grenze endlich zu beenden."
Der Polenexperte schlussfolgert:
"Leben ist eben nicht gleich Leben, auch in Europa nicht, das sich doch stets zugutehält, so human zu sein."