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Die Stimme

Pakistan: Afghanin droht Abschiebung zu ihrem Taliban-Onkel

May 1, 2023, Barcelona, Spain: LIZA ANVARY, an Afghan refugee, looks through a window frame she says represents the prison like situation of women in her country. Liza worked for the Afghan government ...
Vergessen und verfolgt: Viele Frauen in Afghanistan leiden unter der Herrschaft der Taliban. Bild: imago images / Ximena Borrazas
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Afghanin droht Abschiebung zu ihrem Taliban-Onkel – hier spricht sie über ihr Schicksal

Eine junge Frau flieht aus ihrem Heimatland. Sie will frei leben, Lehrerin werden, aus Liebe heiraten. Nun droht ihr die Abschiebung. Was kann der 22-Jährigen noch Hoffnung geben?
25.11.2023, 15:00
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Es dauert keine drei Sätze und die ersten Tränen fließen über das Gesicht der Afghanin. Sie sitzt vor ihrem Laptop auf dem Boden im Schneidersitz. Im Hintergrund sind kaum Möbel zu sehen. Die 22-Jährige lebt mit mehreren afghanischen Familien in einem Gebäude, mit fünf Personen teilt sie sich ein Zimmer. Sie alle sind nach Pakistan geflohen – illegal, ohne Visum. Auch ihre Eltern und ihre Geschwister.

Ihnen gelang die Flucht vier Wochen nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021. Nun droht ihnen jederzeit die Abschiebung – "und damit Gewalt, Vergewaltigung und Tod durch meinen Taliban-Onkel", sagt die junge Frau.

10.11.2023, Pakistan, Torcham: Tausende Afghanen verlassen derzeit täglich Pakistan. Am Grenzübergang Torcham warten zahlreiche Familien auf ihre Rückkehr nach Afghanistan. Jahrzehntelang lebten in Pa ...
Tausende Afghan:innen verlassen derzeit täglich Pakistan. Das Land will sie mit Massenabschiebungen loswerden.Bild: dpa / Nabila Lalee

Seit Anfang Oktober sollen nicht angemeldete Afghan:innen Pakistan verlassen. Menschenrechtsorganisationen zählen zwischen 1,4 bis 1,7 Millionen Betroffene – darunter Amena*.

Der Afghanin droht jederzeit die Abschiebung aus Pakistan

"Ich fühle mich so alleingelassen", sagt sie im Gespräch mit watson. Die Polizei habe ihnen schon mit der Abschiebung gedroht. Die pakistanische Regierung gebe den afghanischen Geflüchteten eine Frist bis Ende des Jahres, heißt es. Doch die Gefahr, jederzeit verhaftet und abgeschoben zu werden, sei groß, meint Amena. "Wir verlassen nicht mehr das Haus."

Beim Gedanken an eine erzwungene Rückkehr nach Kabul zittert ihre Stimme. Sie sucht nach Worten, tupft mit einem Taschentuch die Augen trocken. Ihre Nägel sind hell lackiert, passend zum weißen Tuch, das ihr Haar bedeckt. "Er will Rache an uns nehmen", sagt die junge Frau über ihren Onkel. Dazu will er sie und ihre Schwestern, 17 und 23 Jahre alt, mit Cousins zwangsverheiraten.

"In seinen Augen sind wir vom Glauben abgekommen und leben ein unmoralisches Leben", sagt Amena. Ihre Familie besäße keine Ehre.

ARCHIV - 11.08.2022, Afghanistan, Kabul: Afghanische Mädchen besuchen eine religiöse Schule, die seit der Machtübernahme durch die Taliban im letzten Jahr geöffnet blieb. Angesichts des Verbots von Mä ...
Afghanische Mädchen besuchen eine religiöse Schule, die seit der Machtübernahme durch die Taliban geöffnet blieb.Bild: AP / Ebrahim Noroozi

Ihre Eltern schickten die Mädchen zur Schule, die Mutter führte einen Schönheitssalon, der Vater unterstützte das. Die Schule, auf die Amena ging, wurde von einer deutschen Organisation gefördert – was ihrem Onkel nicht passte.

Amena war in Kabul als Lehrerin tätig

Die Afghanin war Schülerin und Lehrerin an einer der Schulen des Afghanischen Frauenvereins. In Deutschland lebende Afghaninnen gründeten ihn 1992, um den Menschen in ihrer Heimat zu helfen. Ein Arbeitszeugnis von Amena liegt watson vor.

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"Natürlich kennen wir ihren Fall", erklärt Geschäftsführerin Christina Ihle auf watson-Anfrage. Sie bestätigt, dass Amena an der Boyasarschule als Lehrerin tätig war. Doch der Verein kann ihr nicht helfen.

Laut Ihle nahm Amena im Juli mit ihr Kontakt auf, mit Bitte um Ausreisehilfe nach Deutschland. "Wir hatten ihr daraufhin geantwortet, wie wenig wir im Moment bei allen geschlossenen Listen von Deutschland aus tun können und dass die Kabul Luftbrücke eine der noch wenigen Chancen sei", sagt sie.

Kabul Luftbrücke: Amenas letzter Ausweg?

Amena sagt, sie habe mit der Kabul Luftbrücke Kontakt aufgenommen. Dazu liegt watson eine E-Mail vor. Aber seit Juli habe sie nichts mehr von der deutschen Hilfsinitiative gehört.

Ziel der 2021 gegründeten Kabul Luftbrücke ist es, Menschen bei der sicheren und legalen Ausreise zu unterstützen.

Ein Sprecher bestätigt, dass Amena im System aufgenommen ist. Ihr Anliegen liege nun bei der Koordinationsstelle der Bundesregierung. "Sie entscheidet weiter. Es gibt zwei Möglichkeiten: Warten oder Zusage. Eine Absage erhalten die Menschen nicht."

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Afghanin sucht Hilfe bei der UN

"Als wir in Pakistan ankamen, schliefen wir zunächst in einem Park, dann half uns eine Person, mit dem IOM Kontakt aufzunehmen", sagt Amena. Die Internationale Organisation für Migration ist eine auf Migration spezialisierte Organisation der Vereinten Nationen (UN). Drei Monate lang habe Amenas Familie von ihr 100 Euro erhalten.

Afghan refugees settle in a camp near the Torkham Pakistan-Afghanistan border in Torkham, Afghanistan, Saturday, Nov. 4, 2023. A huge number of Afghans refugees entered the Torkham border to return ho ...
Geflüchtete in einem Lager in der Nähe der pakistanisch-afghanischen Grenze in Torkham, Afghanistan.Bild: AP / Ebrahim Noroozi

Dabei stand Amena in Verbindung mit einer IOM-Mitarbeiterin, deren Name der Redaktion bekannt ist. "Von heute auf morgen war sie nicht mehr über Telefon erreichbar", sagt die Afghanin. Auch watson versuchte, über die E-Mail-Adresse Kontakt zur Fallbearbeiterin aufzunehmen – vergebens. Zudem ließ das IOM weitere watson-Anfragen unbeantwortet.

Aussichtlose Lage der Afghanen in Pakistan

"Die Situation ist mies, sie lassen uns nicht einmal unseren Fall vortragen", klagt Amena. Menschen versammeln sich vor dem UN-Gebäude in Pakistan, um ihre Wut zum Ausdruck zu bringen, erzählt sie. Dazu zeigt sie watson mehrere Videos: Männer und Frauen stehen dicht gedrängt, es kommt zu Rangeleien. Die Echtheit der Aufnahmen konnte watson nicht unabhängig verifizieren.

Im Dezember 2021 registrierte sich Amenas Familie bei der UN. Ihre biometrischen Daten wurden im Mai 2023 im UNHCR-Büro aufgenommen. Seither habe sie nichts mehr gehört.

Die Dokumente und Amenas Fallnummer liegen watson vor. Auch hier blieb die Bitte um ein Statement von der UN und des UNHCR, dem Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, unbeantwortet.

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Immer wieder begibt sich Amena zum Büro der UN in Pakistan, immer wieder wird sie enttäuscht, teils gehe man "respektlos" mit den Leuten um, behauptet sie. Zwei Wochen nach dem Gespräch schreibt sie eine Textnachricht: "Ich habe mit der Fallbearbeiterin vom IOM gesprochen. Es gibt Neuigkeiten."

Man würde der Familie helfen, Pakistan zu verlassen, falls sie jemanden kennen, der sie finanziell woanders unterstützt. "Leider haben wir niemanden im Ausland", schreibt Amena auf Englisch. Eine Sprache, die sie noch lernt.

Das bringt Amena zurück zur Hoffnung, Deutschland könne ihr helfen.

Auf watson-Anfrage zu ihrem Fall heißt es aus dem Auswärtigen Amt: "Die Abschiebungen afghanischer Staatsangehöriger aus Pakistan betrachten wir mit Sorge, insbesondere vor dem Hintergrund der katastrophalen humanitären Lage in Afghanistan und mit Blick auf den nahenden Winter." Pakistan habe bei der Aufnahme und Versorgung von Afghan:innen, teilweise über Jahrzehnte hinweg, viel geleistet.

Auswärtiges Amt steht im Austausch mit Pakistan

"Wir setzen uns dafür ein, dass Pakistan auch weiterhin mit Blick auf deren humanitäre Lage handelt. Dafür haben wir in Gesprächen mit Pakistan in den vergangenen Wochen intensiv geworben", sagt ein Sprecher. Weiter heißt es:

"Das Auswärtige Amt hat vor dem aktuellen Hintergrund dem UNHCR für humanitäre Hilfe in Afghanistan und den Nachbarländern zusätzlich 20 Millionen Euro in Aussicht gestellt. Die Gesamtförderung für UNHCR im Afghanistan-Kontext beläuft sich somit im Jahr 2023 auf insgesamt 40 Millionen Euro."

Ihle vom Afghanischen Frauenverein sagt, sie sei froh, dass das Bundesaufnahmeprogramm langsam wieder anläuft. Allerdings sei die Anzahl der zur Einreise bewilligten Personen minimal. Man beschränke sich vor allem auf Personen, die in von Deutschland finanzierten staatlichen Projekten und Organisationen gearbeitet haben.

Der Afghanische Frauenverein gehört nicht in den Kreis dieser Organisationen, da er ausschließlich durch private Spenden finanziert wird. Ehemaligen Mitarbeitenden wie Amena könne man daher kaum mehr Hoffnung auf eine mögliche Ausreise machen.

Im August 2021 gelang es dem Verein, drei der gefährdetsten Mitarbeiterinnen über die Kabul Luftbrücke ausfliegen zu lassen.

Alle anderen, die sich gefährdet fühlten, habe man auf die damalige Liste des Auswärtigen Amtes gesetzt. "Diese wurde bereits im Oktober 2021 geschlossen, mit bis heute – so hörte ich – über 80.000 nicht bearbeiteten Fällen", sagt Ihle.

Amena ist kein Ausnahmefall

Laut Ihle steht Amena für eine große Gruppe verzweifelter Menschen aus Afghanistan, denen durch die Medien und die deutsche Politik viel Hoffnung auf eine mögliche Einreise nach Deutschland gemacht wurde. Die Realität konnte den Versprechen nicht standhalten.

Dennoch schätzt Ihle die Gefahr für (ehemalige) Mitarbeiterinnen aus dem Bildungssektor in Afghanistan aktuell als gering ein. Davon machte sie sich gerade ein Bild vor Ort.

Sie sagt:

"Alle unsere Lehrerinnen arbeiten normal an unseren fünf Schulen für 5000 Kinder weiter. Auch an unserer Bojasarschule, wo Amena tätig war und die ich besucht habe, gehen alle Lehrerinnen gefahrlos ihrer Arbeit nach und müssen aktuell keine Bedrohung aus der Politik oder Gemeinschaft fürchten."
FILE - A teacher leads a girl's class on the first day of the school year, in Kabul, Afghanistan, on Saturday, March 25, 2023. (AP Photo/Ebrahim Noroozi, File)
Die Taliban erlauben Mädchen, bis zur siebten Klasse die Schule zu besuchen.Bild: AP / Ebrahim Noroozi

Sollte Amena nach Afghanistan zurückmüssen, könne sie erneut als Lehrerin für den Verein arbeiten. Doch Amena droht Gewalt von ihrem Taliban-Onkel. Die familiäre Lage der Afghanin könne Ihle nicht einschätzen. Sie kenne die Familie nicht. Auch Amenas langjährige Schulleiterin und ehemalige Chefin konnte sich dazu nicht äußern.

"Und selbst wenn wir die Familie besuchen, ist es schwer, ein wahres Bild der Gefahrenlage zu bekommen", sagt Ihle.

Man werde in Kontakt mit Amena bleiben. Ihle kenne den Traum der Afghanin: ein Leben in Deutschland.

Transparenzhinweis
Amena* heißt in Wirklichkeit anders. Ihr Name ist der Redaktion bekannt und wurde aus Sicherheitsgründen geändert. Das Gespräch wurde mithilfe eines Übersetzers geführt.
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