Es dauert keine drei Sätze und die ersten Tränen fließen über das Gesicht der Afghanin. Sie sitzt vor ihrem Laptop auf dem Boden im Schneidersitz. Im Hintergrund sind kaum Möbel zu sehen. Die 22-Jährige lebt mit mehreren afghanischen Familien in einem Gebäude, mit fünf Personen teilt sie sich ein Zimmer. Sie alle sind nach Pakistan geflohen – illegal, ohne Visum. Auch ihre Eltern und ihre Geschwister.
Ihnen gelang die Flucht vier Wochen nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021. Nun droht ihnen jederzeit die Abschiebung – "und damit Gewalt, Vergewaltigung und Tod durch meinen Taliban-Onkel", sagt die junge Frau.
Seit Anfang Oktober sollen nicht angemeldete Afghan:innen Pakistan verlassen. Menschenrechtsorganisationen zählen zwischen 1,4 bis 1,7 Millionen Betroffene – darunter Amena*.
"Ich fühle mich so alleingelassen", sagt sie im Gespräch mit watson. Die Polizei habe ihnen schon mit der Abschiebung gedroht. Die pakistanische Regierung gebe den afghanischen Geflüchteten eine Frist bis Ende des Jahres, heißt es. Doch die Gefahr, jederzeit verhaftet und abgeschoben zu werden, sei groß, meint Amena. "Wir verlassen nicht mehr das Haus."
Beim Gedanken an eine erzwungene Rückkehr nach Kabul zittert ihre Stimme. Sie sucht nach Worten, tupft mit einem Taschentuch die Augen trocken. Ihre Nägel sind hell lackiert, passend zum weißen Tuch, das ihr Haar bedeckt. "Er will Rache an uns nehmen", sagt die junge Frau über ihren Onkel. Dazu will er sie und ihre Schwestern, 17 und 23 Jahre alt, mit Cousins zwangsverheiraten.
"In seinen Augen sind wir vom Glauben abgekommen und leben ein unmoralisches Leben", sagt Amena. Ihre Familie besäße keine Ehre.
Ihre Eltern schickten die Mädchen zur Schule, die Mutter führte einen Schönheitssalon, der Vater unterstützte das. Die Schule, auf die Amena ging, wurde von einer deutschen Organisation gefördert – was ihrem Onkel nicht passte.
Die Afghanin war Schülerin und Lehrerin an einer der Schulen des Afghanischen Frauenvereins. In Deutschland lebende Afghaninnen gründeten ihn 1992, um den Menschen in ihrer Heimat zu helfen. Ein Arbeitszeugnis von Amena liegt watson vor.
"Natürlich kennen wir ihren Fall", erklärt Geschäftsführerin Christina Ihle auf watson-Anfrage. Sie bestätigt, dass Amena an der Boyasarschule als Lehrerin tätig war. Doch der Verein kann ihr nicht helfen.
Laut Ihle nahm Amena im Juli mit ihr Kontakt auf, mit Bitte um Ausreisehilfe nach Deutschland. "Wir hatten ihr daraufhin geantwortet, wie wenig wir im Moment bei allen geschlossenen Listen von Deutschland aus tun können und dass die Kabul Luftbrücke eine der noch wenigen Chancen sei", sagt sie.
Amena sagt, sie habe mit der Kabul Luftbrücke Kontakt aufgenommen. Dazu liegt watson eine E-Mail vor. Aber seit Juli habe sie nichts mehr von der deutschen Hilfsinitiative gehört.
Ziel der 2021 gegründeten Kabul Luftbrücke ist es, Menschen bei der sicheren und legalen Ausreise zu unterstützen.
Ein Sprecher bestätigt, dass Amena im System aufgenommen ist. Ihr Anliegen liege nun bei der Koordinationsstelle der Bundesregierung. "Sie entscheidet weiter. Es gibt zwei Möglichkeiten: Warten oder Zusage. Eine Absage erhalten die Menschen nicht."
"Als wir in Pakistan ankamen, schliefen wir zunächst in einem Park, dann half uns eine Person, mit dem IOM Kontakt aufzunehmen", sagt Amena. Die Internationale Organisation für Migration ist eine auf Migration spezialisierte Organisation der Vereinten Nationen (UN). Drei Monate lang habe Amenas Familie von ihr 100 Euro erhalten.
Dabei stand Amena in Verbindung mit einer IOM-Mitarbeiterin, deren Name der Redaktion bekannt ist. "Von heute auf morgen war sie nicht mehr über Telefon erreichbar", sagt die Afghanin. Auch watson versuchte, über die E-Mail-Adresse Kontakt zur Fallbearbeiterin aufzunehmen – vergebens. Zudem ließ das IOM weitere watson-Anfragen unbeantwortet.
"Die Situation ist mies, sie lassen uns nicht einmal unseren Fall vortragen", klagt Amena. Menschen versammeln sich vor dem UN-Gebäude in Pakistan, um ihre Wut zum Ausdruck zu bringen, erzählt sie. Dazu zeigt sie watson mehrere Videos: Männer und Frauen stehen dicht gedrängt, es kommt zu Rangeleien. Die Echtheit der Aufnahmen konnte watson nicht unabhängig verifizieren.
Im Dezember 2021 registrierte sich Amenas Familie bei der UN. Ihre biometrischen Daten wurden im Mai 2023 im UNHCR-Büro aufgenommen. Seither habe sie nichts mehr gehört.
Die Dokumente und Amenas Fallnummer liegen watson vor. Auch hier blieb die Bitte um ein Statement von der UN und des UNHCR, dem Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen, unbeantwortet.
Immer wieder begibt sich Amena zum Büro der UN in Pakistan, immer wieder wird sie enttäuscht, teils gehe man "respektlos" mit den Leuten um, behauptet sie. Zwei Wochen nach dem Gespräch schreibt sie eine Textnachricht: "Ich habe mit der Fallbearbeiterin vom IOM gesprochen. Es gibt Neuigkeiten."
Man würde der Familie helfen, Pakistan zu verlassen, falls sie jemanden kennen, der sie finanziell woanders unterstützt. "Leider haben wir niemanden im Ausland", schreibt Amena auf Englisch. Eine Sprache, die sie noch lernt.
Das bringt Amena zurück zur Hoffnung, Deutschland könne ihr helfen.
Auf watson-Anfrage zu ihrem Fall heißt es aus dem Auswärtigen Amt: "Die Abschiebungen afghanischer Staatsangehöriger aus Pakistan betrachten wir mit Sorge, insbesondere vor dem Hintergrund der katastrophalen humanitären Lage in Afghanistan und mit Blick auf den nahenden Winter." Pakistan habe bei der Aufnahme und Versorgung von Afghan:innen, teilweise über Jahrzehnte hinweg, viel geleistet.
"Wir setzen uns dafür ein, dass Pakistan auch weiterhin mit Blick auf deren humanitäre Lage handelt. Dafür haben wir in Gesprächen mit Pakistan in den vergangenen Wochen intensiv geworben", sagt ein Sprecher. Weiter heißt es:
Ihle vom Afghanischen Frauenverein sagt, sie sei froh, dass das Bundesaufnahmeprogramm langsam wieder anläuft. Allerdings sei die Anzahl der zur Einreise bewilligten Personen minimal. Man beschränke sich vor allem auf Personen, die in von Deutschland finanzierten staatlichen Projekten und Organisationen gearbeitet haben.
Der Afghanische Frauenverein gehört nicht in den Kreis dieser Organisationen, da er ausschließlich durch private Spenden finanziert wird. Ehemaligen Mitarbeitenden wie Amena könne man daher kaum mehr Hoffnung auf eine mögliche Ausreise machen.
Im August 2021 gelang es dem Verein, drei der gefährdetsten Mitarbeiterinnen über die Kabul Luftbrücke ausfliegen zu lassen.
Alle anderen, die sich gefährdet fühlten, habe man auf die damalige Liste des Auswärtigen Amtes gesetzt. "Diese wurde bereits im Oktober 2021 geschlossen, mit bis heute – so hörte ich – über 80.000 nicht bearbeiteten Fällen", sagt Ihle.
Laut Ihle steht Amena für eine große Gruppe verzweifelter Menschen aus Afghanistan, denen durch die Medien und die deutsche Politik viel Hoffnung auf eine mögliche Einreise nach Deutschland gemacht wurde. Die Realität konnte den Versprechen nicht standhalten.
Dennoch schätzt Ihle die Gefahr für (ehemalige) Mitarbeiterinnen aus dem Bildungssektor in Afghanistan aktuell als gering ein. Davon machte sie sich gerade ein Bild vor Ort.
Sie sagt:
Sollte Amena nach Afghanistan zurückmüssen, könne sie erneut als Lehrerin für den Verein arbeiten. Doch Amena droht Gewalt von ihrem Taliban-Onkel. Die familiäre Lage der Afghanin könne Ihle nicht einschätzen. Sie kenne die Familie nicht. Auch Amenas langjährige Schulleiterin und ehemalige Chefin konnte sich dazu nicht äußern.
"Und selbst wenn wir die Familie besuchen, ist es schwer, ein wahres Bild der Gefahrenlage zu bekommen", sagt Ihle.
Man werde in Kontakt mit Amena bleiben. Ihle kenne den Traum der Afghanin: ein Leben in Deutschland.