watson: Ruben, die Bundesregierung steht wegen der misslungenen Evakuierungen aus Afghanistan noch immer in der Kritik. Aber ich frage mal andersrum: Welche Fehler habt ihr bei "Kabul Luftbrücke" gemacht?
Ruben Neugebauer: Man macht ja immer Fehler. Einer könnte sein, dass wir zu spät mit "Kabul Luftbrücke" angefangen haben. Wir haben bis zuletzt an die Bundesregierung appelliert und es zu spät selbst in die Hand genommen.
Der damalige Innenminister Horst Seehofer hat im Juli noch auf Abschiebeflüge nach Afghanistan gepocht, ganz zu schweigen davon, dass er sich hätte vorstellen können, die Leute zu evakuieren. Wenn man also über Fehler spricht, muss man nicht bei uns, sondern bei der Regierung anfangen.
In der Doku-Reihe "Mission Kabul Luftbrücke" sagst du, euer Charterflug sei nicht dafür da gewesen, den Großteil der Menschen zu evakuieren, sondern der Bundesregierung zu zeigen: Guckt mal, das funktioniert. Hattet ihr Erfolg?
Ja, absolut. Wir hätten es uns ja gar nicht leisten können, aus Spendengeldern einen ganzen Haufen Flieger fliegen zu lassen. Aber uns wurde vonseiten der Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt gesagt, es sei unmöglich, mit einem Charterflug Menschen nach Pakistan auszufliegen. Das war ja nach Ende der militärischen Evakuierung. Wir haben das Gegenteil bewiesen und damit der Bundesregierung gezeigt: Schaut mal, so ist es möglich. Warum macht ihr das nicht auch?
Hat die Regierung das auch so wahrgenommen?
Von deren Seite haben wir immer wieder gehört: "Wir können nicht. Wir wissen nicht. Das geht nicht." Sicherlich ist es so, dass wir als NGO unkonventionelle Wege eher ausprobieren können, vor allem aber wurde auch nach dem Ende der militärischen Evakuierung und auch von der neuen Regierung, weiterhin zu wenig Personal eingesetzt, um neue Wege auszuloten.
In der Folge des Charterfluges, den wir organisiert haben, hat dann auch die Bundesregierung Tickets bei dieser Airline organisiert, um Menschen zu evakuieren, das ist gut. Schade ist, dass die Bundesregierung oft sehr langsam handelt und dadurch Möglichkeitsfenster verpasst werden.
Die Kämpfe starteten schon sehr viel früher. Man hätte ahnen können, was da auf das Land zukommt. Was wirfst du dem Außenministerium unter Heiko Maas vor diesem Hintergrund vor?
Es gibt bei den Sozialdemokraten einen Ausdruck, den sie gern bringen, wenn sie Scheiße bauen. Und der heißt "staatspolitische Verantwortung". Sie glauben, dass es wichtiger ist, den Koalitionsfrieden zu halten und als Bundesregierung geschlossen aufzutreten, als die richtige Politik zu machen und zum Beispiel Menschenleben zu retten.
Wie meinst du das konkret?
Heiko Maas hat vor dem damaligen Innenminister Horst Seehofer gekuscht. Das Problem lag nicht primär im Auswärtigen Amt, sondern ganz eindeutig im Innenministerium. Seehofer hat im Wahlkampf 2021 bewusst Evakuierungen verhindert, weil er kurz vorher noch abschieben wollte. Man konnte nicht rechtfertigen, dass man Menschen nach Afghanistan abschiebt, wenn man gleichzeitig Menschen evakuiert, weil es da so gefährlich ist. Wir haben im Übrigen auch schon viel früher versucht, Menschen da rauszuholen.
Warum hat das nicht geklappt?
Die Leute haben keine Visa gekriegt.
Ich war bereits 2014 in Afghanistan und habe zum Thema der Ortskräfte recherchiert. Nach dem Abzug der Bundeswehr aus Kundus, waren Ortskräfte dort bereits gefährdet, es gab Attentate. Schon damals geizte die Bundesrepublik mit Aufnahmezusagen. Man musste eine konkrete Bedrohung vorweisen können. Deutschland hat sich bewusst vor der Verantwortung gedrückt und das zudem von langer Hand geplant: Etwa wurden Ortskräfte in Subunternehmen angestellt.
Ganz zu schweigen von gefährdeten Personen aus der Zivilgesellschaft wie Frauen, die sich politisch engagiert haben. Man hätte entspannt Zeit gehabt, diese Leute auszufliegen, aber die Bundeswehr hat bei ihrem Abzug aus Masar-i-Scharif 2021 lieber Bierdosen im Flugzeug mitgenommen als ihre Verbündeten. Horst Seehofer hat alles getan, um zu verhindern, dass auch nur ein Afghane zu viel kommt.
Großen Streit hattet ihr am Ende aber nicht mit dem Innenministerium, sondern mit dem AA – also dem Auswärtigen Amt ...
Richtig.
Um was ging es da?
Wir standen während der Planung und auch der Durchführung unseres ersten Charterflugs, noch während der Chaostage der militärischen Evakuierung, mit dem Auswärtigen Amt in Verbindung. Und da ist einiges schiefgelaufen.
Das AA hat uns dann vorgeworfen, wir hätten deren Personal so sehr beschäftigt, dass sie selbst weniger Menschen evakuieren konnten. Weil wir die ganze Zeit da angerufen haben. Aber ganz ehrlich: Wenn in so einer Lage ein paar Hippies mit Telefonen die Bundesregierung ernsthaft in ihrer Krisenkommunikation einschränken können, hat die Regierung ein echtes Problem.
Dieser Streit ging so weit, dass sich das AA gezwungen fühlte, öffentlich Stellung zu nehmen. Der Grünen-Politiker und euer Gründungsmitglied Erik Marquardt veröffentlichte Videos dazu auf Instagram. Plötzlich hörte man gar nichts mehr davon. Gab es eine Einigung oder war es am Ende ein "agree to disagree"?
Ich bin bis heute der Meinung, dass die Bundesregierung eine richtig schlechte Performance abgeliefert hat und uns das in die Schuhe schieben wollte. Sie hatten einfach zu wenig Kapazitäten, zu wenig Personal, zu wenig Plan. Auf diesem Standpunkt bleiben wir auch – und sind auch gerne bereit, dazu im Untersuchungsausschuss auszusagen.
In der Zwischenzeit hat das Außenministerium die politische Farbe gewechselt hat. Es steht unter der Grünen-Politikerin Annalena Baerbock.
Das macht es ein Stück weit obsolet, weiter über die Vergangenheit zu streiten. Aber trotzdem: Die Evakuierungen wurden in der Zeit derart verkackt, dass bis heute noch eine sehr große Zahl gefährdeter Personen in Afghanistan festsitzt. Deshalb ging und geht es uns nicht darum, recht zu haben, sondern wir wollen Lösungen finden.
Ihr arbeitet also weiter mit dem Außenministerium zusammen?
Natürlich haben wir uns mit dem Auswärtigen Amt an einen Tisch gesetzt. Damit wir zumindest darüber reden können, was man in Zukunft besser machen kann. Leider sehen wir bisher keine zufriedenstellenden Ergebnisse.
Hat sich irgendwas an der Zusammenarbeit verbessert?
Zwischendurch ist tatsächlich kurzfristig etwas passiert. Nach diesen ersten Gesprächen wurde ein Weg aufgemacht, über den wir Fälle von gefährdeten Menschen einreichen konnten – da wurden auch kurzfristig relativ viele Fälle bewilligt. Dann gab es Aktionen, bei denen sehr viele Menschen aus Afghanistan auch vonseiten der Bundesregierung evakuiert wurden. Das hat man dann aber wieder gestoppt und auf ein noch nicht existentes Aufnahmeprogramm verwiesen. Es ist so bitter, dass man da so viel Zeit verplempert hat. Die Taliban werden jetzt immer brutaler und unkooperativer.
Inwiefern?
Zu Beginn haben sich die Taliban sehr gemäßigt präsentiert. Aber in dem Moment als sie gemerkt haben, alle schauen auf den Krieg in der Ukraine, haben sie die Daumenschrauben angezogen.
Das erschwert auch die Evakuierungen – mittlerweile lassen sie quasi niemanden mehr raus, es wurde viel zu viel kostbare Zeit verschenkt. Das ist aber kein Grund dafür, dass die Regierung aufhört, kontinuierlich Fälle anzunehmen.
Der "Spiegel" berichtet, dass der Notfallplan der Regierung auf Eis liegt, weil sich die Taliban nicht an Abmachungen halten ...
Richtig und das war absehbar. Wir haben letzten September schon gesagt, dass Eile geboten ist. Jetzt ist die Aufmerksamkeit weg und die Taliban fangen an, sukzessive mehr Leute zu verfolgen und verschwinden zu lassen. Gerade weil das so absehbar war, ist es ja so sträflich, dass die Bundesregierung immer noch nicht die nötigen Kapazitäten geschaffen hat, um ein Aufnahmeprogramm umzusetzen.
Wie hoch ist bei euch die Frustration? Wenn ihr monatelang warnt und warnt – und niemand hört auf euch?
Es ist verdammt frustrierend.
Menschen, die sich im August letzten Jahres ans Auswärtige Amt wendeten, haben bis heute noch nicht mal eine Antwort bekommen. Es scheitert ja schon daran, dass man auch nur die nötigen Personalkapazitäten aufbaut. Der Bundestag hat der Regierung den Auftrag dazu gegeben – und die nötigen Mittel dafür bereitgestellt. Aber da passiert nichts. Sowohl beim Innen- als auch beim Außenministerium. Das grenzt an Arbeitsverweigerung. Und dann zu sagen: "Die Taliban halten sich nicht an Absprachen." Na ja ...
Was erwarten die denn von den Taliban? Das ist ein Terrorregime!
Wie ist denn die Stimmung bei den Menschen vor Ort?
Besorgt bis verzweifelt. Ich kenne zum Beispiel den Fall eines Richters, der früher Taliban ins Gefängnis gebracht hat. Der hat natürlich im August letzten Jahres alle Unterlagen vernichtet, die darauf hindeuten könnten. Und das mit gutem Grund. Im Februar haben die Taliban systematisch Hausdurchsuchungen durchgeführt. Wie soll der nachweisen, dass er gefährdet ist? So geht es sehr vielen Menschen. Da muss ich sagen: Ganz ehrlich – man hatte 20 Jahre Zeit für Bürokratie …
Wie meinst du das?
20 Jahre war Deutschland in Afghanistan aktiv. In diesen 20 Jahren hätte man sich ein sinnvolles Verfahren überlegen können, wie man sicherstellt, dass diese Menschen im Notfall rausgeholt werden können. Jetzt ist es zu spät für Bürokratie, weil die Papiere zum Teil verbrannt oder anderweitig vernichtet werden. Jetzt ist Zeit für Großzügigkeit bei der Aufnahme – im Fall der Ukraine ging das ja auch. Uns wurde von Annalena Baerbock eine Werte-geleitete Außenpolitik versprochen. Die muss sie jetzt abliefern.