Auch Wohnhäuser wurden in Mykolajiw angegriffen.Bild: www.imago-images.de / imago images
Exklusiv
Oleksandr Syenkevych ist der Bürgermeister der ukrainischen Stadt Mykolajiw. Eine Stadt, die tagelang unter Beschuss stand. Gelegen ist sie zwischen Odessa und Cherson. Ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger der Stadt soll schon geflohen sein. Am Telefon erzählt Syenkevych, wie die aktuelle Lage vor Ort ist – und er richtet seine Worte auch an Deutschland und die Europäische Union.
11.03.2022, 19:0208.06.2022, 18:28
Mykolajiw ist eine 480.000-Einwohner Stadt – sie liegt im Süden der Ukraine, nah am Wasser. Im Sommer spielten hier früher Kinder am idyllischen Ufer des Flusses Mervovid.
Jetzt ist die Stadt ein Scherbenhaufen, wie mehrere große Städte in der Ukraine.
Bilder, die der Bürgermeister der Stadt, Oleksandr Syenkevych, watson zugesendet hat, zeigen offenbar von russischem Militär abgeworfene Streumunition und andere Raketensysteme. Sie zeigen zerstörte Wohnhäuser und Straßen. In der Nacht auf vergangenen Montag wurden gleichzeitig mehrere ukrainische Städte von russischen Truppen angegriffen, Mykolajiw war eine davon.
Hinweis der Redaktion: Einen Tag nach dem Gespräch mit Oleksandr Syenkevych wurde die Stadt erneut angegriffen. Nach offiziellen Angaben sind in der belagerten Hafenstadt bisher rund 1500 Menschen ums Leben gekommen, die Zahl der Todesopfer könnte jedoch deutlich höher sein.
Am Telefon erläutert Syenkevych die aktuelle Lage – ein Protokoll:
"Die letzte Nacht war ruhig. Wir bemerken gerade, dass sich die russischen Truppen jetzt neu formieren. Sie ziehen sich zurück und warten vermutlich auf neue Versorgung. Davor wurden wir drei Tage in Folge von Russland bombardiert.
Sie nutzten Streubomben, Streuraketen.
Streumunition – geächtete Waffensysteme
In der internationalen Berichterstattung wird häufig darüber gesprochen,
dass der Einsatz von Streumunition verboten sei. Tatsächlich haben sich im Jahr 2008 mehr als 100 Staaten darauf geeinigt, Streumunition zu ächten – und sich gleichzeitig dazu verpflichtet, diese Waffensysteme nicht anzuwenden.
Russland – und die Ukraine – haben die Streubomben-Konvention allerdings nicht unterschrieben.
Lies hier mehr über StreumunitionIhr Hauptziel ist es, Menschen zu töten. Diese Art von Bomben ist illegal. Es ist nicht erlaubt, sie in einem Krieg einzusetzen, aber ich glaube, Putin ist das egal.
Vorgestern bombardierten sie noch unsere Posten vor der Stadt und auch zivile Gebäude. Seit dem Krieg wurden etwa 174 Gebäude in der Stadt ganz oder teilweise zerstört.
Ein zerstörtes Haus in der Stadt Mykolajiw.Bild: Zur Verfügung gestellt von Mykolaiv City Council
Heute reaktivieren wir die Strom-, Heizungs- und Wasserversorgung, damit die Menschen hier einigermaßen gut leben können. Die öffentlichen Verkehrsmittel fahren jetzt wieder, alte Trolleybusse und Straßenbahnen bewegen sich durch die Stadt und die sind kostenlos für die Bürger. Wir sind hier aber umgeben von russischen Truppen. Die Hälfte der Stadt ist umzingelt. Die Richtung nach Cherson ist gesperrt: also nach Süd-Osten, und sie umzingeln uns von Nord-Ost.
Sie halten etwa 30 bis 50 Kilometer Abstand zur Stadt, damit unsere Artillerie sie dort nicht erwischen kann. Wir vermuten, dass sie auf eine neue, frische Streitmacht warten und uns in einigen Tagen wieder angreifen werden.
"Wir sehen, wie Menschen in Gräben beerdigt werden. Wir wissen, dass Menschen in den Höfen ihrer Häuser begraben sind."
Der einzige Weg nach Mikolajiw ist gerade der aus Richtung Odessa. Auf diesem Weg evakuieren wir auch jene Menschen, die die Stadt verlassen wollen. Und wir bekommen Lebensmittel und andere Vorräte aus dieser Richtung.
Aber wir brauchen eben mehr: Zuallererst brauchen wir Verteidigungsequipment für unsere Truppen. Wir haben Armeetruppen und wir haben Territorialverteidigungstruppen, das sind einfache Zivilisten, die eine Waffe in ihren Händen halten können. Und für sie brauchen wir Schutz. Wir brauchen Helme. Wir brauchen schusssichere Westen.
Folgendes Video hat das Mykolaiv City Council zusammengestellt und watson zur Verfügung gestellt:
Außerdem sammeln wir langfristig lagerfähige Lebensmittel wie Dosen und andere Arten von Produkten, die wir sammeln und dann den Menschen geben können, falls wir vollständig von der russischen Armee umzingelt werden.
Wir wissen nicht genau, wie viele Menschen die Stadt bereits verlassen konnten – wir haben das nicht pro Person gezählt. Aber wir messen das in etwa an der Menge an Müll und Wasserverbrauch. Demnach hat etwa ein Drittel der Bürger Mikolajiw verlassen.
Mir ist wichtig, dass die Europäische Union versteht, dass die Ukraine jetzt eine Grenze zwischen der westlichen Zivilisation und den russischen Nazis ist. Sie sehen doch diese Bilder aus Mariupol, wo die Menschen komplett eingekreist sind, wo die Russen alle Krankenhäuser, Kindergärten, Zivilgebäude bombardiert haben. Sie bombardierten alles. Sie ruinieren eine ganze Stadt.
Appell an Deutschland:
"Was wir jetzt aus Deutschland und von der Europäischen Union brauchen: zuallererst schwere Waffen."
Wir sehen, wie Menschen in Gräben beerdigt werden. Wir wissen, dass Menschen in den Höfen ihrer Häuser begraben sind. Die Menschen haben kein Wasser, sie haben kein Essen, sie haben keine Medikamente, Menschen sterben und sie geben ihnen keine humanitären Korridore, um diese Stadt zu verlassen.
Sie wollen jeden in der Stadt töten. Zumindest verhalten sie sich so, als wäre das ihr Ziel.
Und was wir jetzt aus Deutschland und von der Europäischen Union brauchen: zuallererst schwere Waffen.
Folgendes Video hat das Mykolaiv City Council watson zur Verfügung gestellt:
Ich weiß, dass Europa den Luftraum über der Ukraine nicht schließen wird, weil dies bedeuten würde, dass die NATO einen echten Kampf mit den Russen beginnen würde. Aber wir brauchen schwere Waffen, zum Beispiel Flugabwehrsysteme wie Javelins und Stingers, oder Panzerabwehrsysteme wie NLAWs – damit wir sie aus der Stadt raushalten können. Und wir brauchen persönliche Verteidigung: Helme und kugelsichere Westen.
Und das andere ist: Es muss mehr Sanktionen geben – Sanktionen gegen Russland. Damit sie sich auf ihr eigenes Land konzentrieren müssen und nicht darauf, wie sie am besten in die Ukraine einmarschieren können."
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