Streecks Sparvorschlag für ältere Menschen: Irre, aber nicht überraschend
Wann sollten Menschen sterben? Eine klassische Fragestellung für ein Ethik-Seminar, für Zitatschlachten zwischen übereifrigen Philosophiestudent:innen. Auf Platon folgt David Hume, folgt … Hendrik Streeck? Künftig vielleicht. Der Virologe und aktuelle Drogenbeauftragte der Bundesregierung hat zumindest seine Einschätzung zur Fragestellung abgegeben – vermengt mit einem modrigen Appell.
Für alle, die ein Leben haben: In der "Welt"-Talksendung mit betont kratzbürstigem Titel "Meinungsfreiheit" forderte Streeck mehr Abwägungen im Gesundheitssystem, gerade in Bezug auf die Behandlung älterer Menschen, um unnötige Kosten zu vermeiden. Er verwies dabei auf die Krebstherapie von 100-Jährigen. Es kam zu Kritik, die Bundesregierung distanzierte sich, der Patientenverband war alarmiert. Streeck verteidigte seinen Standpunkt und das Spiel ging weiter.
Streecks Aussagen sind ehrlich
Es wäre leicht, das als Verrücktheit abzustempeln, als eine menschenverachtende Haltung, als eine Absage an den Humanismus. Alles richtig. Die unterkühlte Forderung ist aber alles andere als eine Anomalie in der Diskursarena um die Gesundheitsversorgung älterer Menschen. Vielmehr ist sie das Ergebnis bürgerlich-kapitalistischen Kalküls.
Streeck stützt sich auf eine Zahlenlogik. Nach dieser brauche es auch eine finanzielle Abwägung, wann es sich lohne, auf teure Medikamente zurückzugreifen. Er nahm seinen Vater als Beispiel, der seine Krebsbehandlung aus eigener Tasche zahlte.
Dabei handelt es sich um den verstorbenen Psychologie-Professor Ulrich Streeck, also eine Person mit recht gutem Einkommen. Kein wirklich massentaugliches Beispiel. Doch das ist ohnehin Augenwischerei. Eine Familiengeschichte eignet sich im politischen Kontext höchstens als emotionales Gewicht – niemals als Argument.
In seinem Nachdreh setzte Streeck auf Pseudo-Humanismus. Es gehe nicht um die Versorgung, sondern um die Überversorgung, nicht ums Sparen, sondern ums Ersparen. Er bleibt entsprechend sozialdarwinistisch, verpackt ihn nur etwas netter.
Und Streeck ist damit keineswegs ein isolierter Ausreißer. Der Gedanke, staatliche Fürsorge an ökonomische Nützlichkeit zu koppeln, wabert seit Jahren durch die Politik. Katharina Reiche etwa kündigte einst an, die Rente könne künftig "nicht zum Überleben reichen" – als sei das eine Naturgewalt und keine politische Entscheidung.
Leidtragende sind in beiden Fällen Menschen, die nicht zur vermögenden Kaste zählen, die ihre Krebsmedikamente (und Rente) nicht aus eigener Tasche zahlen können. Menschen, die zudem nicht beziehungsweise nicht mehr produktiv sind, sprich für die Kapitalverwertung keinen Nutzen mehr haben.
Und diese will der Staat, gehen wir nach Streeck und Reiche, eben nicht schützen. Der Wert eines Menschenlebens wird damit an den Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt geknüpft. Das lässt sich auch auf andere Bereiche übertragen.
Rechnet das Statistische Bundesamt das Existenzminimum zwecks Sozialeinsparungen klein, schlägt das in eine ähnliche Kerbe. Besonders interessant ist hier, dass in Armut der Gleichheitsanspruch gilt. Etwas, das Linke sich immer als Argument gegen ihre Interessen anhören müssen, selbst wenn sie mit Gleichheit eben nicht gleiches Geld für alle meinen.
Wut ist gut, aber nicht auf Streeck
Nur bei ökonomischer Verwendbarkeit und der bedingungslosen Hingabe, die eigene Arbeitskraft einzubringen, ist ihre Existenz in einem Staat gerechtfertigt und damit auch etwaige Schutzansprüche. Streeck, Reiche und viele weitere drücken das nur nicht in dieser Härte aus. Trotzdem entspringen ihre Aussagen ebendieser Verwertungslogik.
Von der Bundesregierung bekam er deswegen auch keine wirkliche Kritik zu hören. Vielmehr ginge es darum, bestimmte Themen entsprechend vorzubereiten, wie es Sprecher Steffen Meyer formulierte. Aus dem Gesundheitsministerium hieß es dazu, diese Zielrichtung werde nicht verfolgt. Was nicht ist, kann aber bekanntermaßen noch werden.
Ärger über Streecks Entgleisungen reicht aber nicht. Moralische Empörung ändert nichts an den bestehenden Verhältnissen. Kritik und Widerstand müssen fundamentaler sein, um wirklich etwas zu bewegen. Denn statt sich der Frage hinzugeben, wann Menschen sterben müssen, wäre es künftig besser, sich einer anderen Frage zu widmen: Warum es Streecks Forderungen so nie wieder geben sollte.
