watson.ch: Frau Cubito, unser letztes Interview ist jetzt drei Monate her. Russland hatte da gerade eine bittere Niederlage vor Kiew einstecken müssen. Da warnten Sie aber bereits, dass man die Russen nie unterschätzen dürfe. Zeigt sich jetzt, was Sie damals meinten?
Tamara Cubito: Absolut. In den ersten Wochen machte man sich lustig über die Pleiten-Pech-und-Pannen-Show der Russen. Man hatte das Gefühl, es seien alles totale Amateure. Jetzt zeigt sich aber, dass die russische Armee sehr professionell ist und gut ausgebildete Offiziere hat, die das Ruder herumreißen konnten.
Russland kontrolliert mittlerweile etwa 20 Prozent der Ukraine und macht im Donbas stetig Fortschritte. Was sind die Gründe für den Erfolg der Russen?
Das liegt zum einen sicherlich an der neuen Taktik. Die Russen setzen jetzt auf massive Artillerieschläge und marschieren langsam voran. Zudem gibt es jetzt eine klarere Führungsstruktur und die Kräfte werden gebündelt. Sie greifen nicht mehr an mehreren, voneinander weit entfernten Fronten an, sondern haben enger definierte Ziele.
Werden die Russen weiterhin an Boden gutmachen im Donbas?
Es stellt sich die Frage, was die Russen jetzt machen. Möglicherweise wollen sie jetzt eine temporäre Konsolidierung in den eroberten Gebieten und legen einen Halt ein. Es könnte aber auch sein, dass sie zumindest punktuell weiter drücken, um herauszufinden, wie stark die neuen ukrainischen Verteidigungslinien sind. Sollten sie dort auf Schwächen stoßen, könnten sie das Momentum ausnutzen.
Mittlerweile setzen die Ukrainer ein hochmodernes Langstreckenraketensystem aus den USA ein – das sogenannte HIMARS. Wird sich das Blatt damit wenden?
Die Ukrainer jubeln diese Waffe jetzt hoch. Das ist auch logisch, denn sie wollen noch mehr davon und sie taugt ja auch etwas. Bis jetzt sollen acht HIMARS in der Ukraine angekommen sein, vier davon sind angeblich an der Front im Einsatz. Allerdings gibt es bereits Berichte, wonach zwei zerstört wurden. Auch wenn die USA jetzt nochmals vier Exemplare liefern werden, wird diese Waffe nicht kriegsentscheidend sein. Die Ukrainer können mit HIMARS unter Umständen die Russen an empfindlichen Stellen treffen, aber die für die Ukrainer so wichtigen Gebietsgewinne sind damit noch nicht gemacht.
Die alles entscheidende Waffe gibt es also nicht?
Die extremste Waffe, die je in einem Krieg eingesetzt wurde, ist wahrscheinlich die Atombombe, von denen im Zweiten Weltkrieg zwei über Japan abgeworfen wurden. Selbst da ist umstritten, ob sie den Krieg wirklich entschieden und Japan zur Kapitulation gezwungen haben. Mindestens genauso wichtig war der zeitgleiche Einmarsch der Sowjets in der Mandschurei. Wenn selbst die Atombombe nicht kriegsentscheidend war, glaube ich auch nicht, dass es das HIMARS in der Ukraine wird. Zumal sich auch die Frage stellt, ob die Ukrainer langfristig in der Lage sein werden, die Waffe zu warten.
Stimmt, die Wartung dürfte auch einiges an Expertise benötigen ...
Je moderner und komplexer die Waffensysteme sind, desto besser sind sie in der Regel. Aber oft gestaltet sich dann auch die Wartung komplizierter. Das heißt, man braucht gut ausgebildete Mechaniker sowie genügend Ersatzteile. Teilweise ist es bei modernen Waffen wirklich extrem: Wenn ein kleines Teil fehlt oder defekt ist, funktioniert unter Umständen das ganze System nicht mehr. Dieses Problem darf man nicht unterschätzen. Wegen der HIMARS werden die Ukrainer den Krieg nicht gewinnen. Man darf dabei nicht vergessen, dass sich das Kräfteverhältnis derzeit immer mehr zugunsten der Russen verschiebt.
Ist das wirklich so?
Ja.
Erläutern Sie.
Die Russen haben viel mehr Reserven, die sie einsetzen können. Die Ukrainer kämpfen derweil vermutlich nahe am Limit. Seit Februar gehen die Verluste, Verwundete inklusive – auch wenn diese Zahl je nach Phase natürlich stark variiert – jeden Tag in die Hunderte. Rechnen Sie das mal hoch! Die Ukrainer verfügen nicht über ein unerschöpfliches Reservoir für den Ersatz.
Auf Seiten der Ukrainer klingt das aber teilweise ganz anders. Nach dem mutmasslichen HIMARS-Schlag bei der Stadt Nowa Kachowka kündigte Präsidentenberater Olexij Arestowitsch an, dass dies der Startschuss zur Befreiung des Südens sei.
Vielleicht wird es der Ukraine gelingen, einige kleine Dörfer im Süden zu befreien. Aber kurz- bis mittelfristig ist eine Befreiung des gesamten Südens komplett unrealistisch. Dazu müssten sie eine Großoffensive starten…
... und bisher haben sie sich vorwiegend verteidigt.
Genau, das ist ein gewaltiger Unterschied. Für eine erfolgreiche Offensive benötigt man gemäß Experten eine 3:1-Überlegenheit, was die Truppenstärke angeht, und selbst diese Formel kann man hinterfragen. Dieses Minimum ist aufseiten der Ukrainer momentan nicht realistisch. Sie können ja nicht plötzlich alle Kräfte auf den Süden konzentrieren. Den Donbas müssen sie auch verteidigen und die Nordgrenze dürfen sie ebenfalls nicht vernachlässigen. Man weiß ja nicht, ob die Belarussen nicht plötzlich auch noch in den Krieg eintreten.
Was bräuchte es für eine erfolgreiche, großflächige ukrainische Gegenoffensive sonst noch?
Eine Großoffensive braucht unter anderem viel Planung, Material und Munition. Die Koordination der verschiedenen Waffen ist sehr komplex und man muss genügend Reserven haben, die man zur richtigen Zeit am richtigen Ort einsetzen kann. Die Soldaten müssen für eine Offensive ausgebildet sein und diese auch geübt haben. Ich sehe nicht, wie die Ukraine dies unter den aktuellen Umständen hinbekommen könnte.