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Israel: Hat Hamas unter Palästinensern Rückhalt? Nahost-Expertin ordnet ein

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Ein Blick auf die Trümmer von Gebäuden in Gaza-Stadt, die bei einem israelischen Luftangriff getroffen wurden (10. Oktober 2023)Bild: imago images / APAimages/ bashar Taleb
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Nahost-Expertin: "Große Mehrheit der Palästinenser will einfach endlich Frieden"

Margret Johannsen ist Politikwissenschaftlerin und beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit dem Nahost-Konflikt. Im Interview ordnet sie ein, welchen Rückhalt die Hamas in der palästinensischen Zivilbevölkerung hat.
12.10.2023, 07:4317.10.2023, 14:25
Aylin Erol / watson.ch
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Watson.ch: Die Hamas hat am Samstag mehrere Angriffe gegen Israel gestartet. Die Kämpfer gehen äußerst brutal gegen Zivilisten vor. Sie erschießen Menschen auf offener Straße, nehmen Geiseln, beschießen Israel mit Raketen. Trotzdem gibt es viele Staaten, inklusive der Schweiz, die die Hamas bisher nicht als Terrororganisation eingestuft haben. Weshalb?

Margret Johannsen: Aus meiner Sicht ist die Hamas definitiv eine Terrororganisation. Warum die Schweiz die Hamas noch nicht als solche eingestuft hat, darüber kann ich nur spekulieren. Ich vermute, es hängt mit dem Schweizer Neutralitätsverständnis zusammen. Ansonsten gibt es aber einige Staaten, in denen die Hamas gewisse Sympathien genießt. Etwa in Afrika oder im arabischen Raum. Dies, weil sie als eine Organisation angesehen wird, die sich nicht dem Diktat des Westens unterwirft.

Zur Person
Margret Johannsen ist Politikwissenschaftlerin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf dem Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. 2023 kam ihr Buch "Der Nahost-Konflikt" heraus. In diesem zeichnete sie nicht nur die Entstehung des Konflikts vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart nach, sie analysiert auch die verschiedenen Friedensprozesse, die seit den 1990er-Jahren stattgefunden haben. Johannsen reiste mehrfach nach Israel, in die Westbank und den Gazastreifen.

Manche Expertinnen und Experten vermuten, dass die Hamas vom Iran unterstützt werden. Was sagen Sie dazu?

Ich weiß es nicht mit Sicherheit, aber ich glaube nicht, dass der Iran hinter der Hamas steckt. Aus meiner Sicht ist die Hamas ein autonomer Akteur in Palästina.

Inwiefern besitzt die Hamas den Rückhalt der palästinensischen Zivilgesellschaft?

Die Hamas ist nicht nur eine Terrororganisation, sie ist gleichzeitig auch die Regierung des palästinensischen Gazastreifens. 2006 haben die Palästinenser dort die Hamas gewählt. Seither regiert die Terrororganisation aber mit eiserner Hand und hat erneute Wahlen nicht zugelassen. Es hat in der Vergangenheit immer wieder Palästinenser gegeben, die die Hamas öffentlich kritisierten und auch heute gibt es diese Kritiker noch. Sie sind allerdings nur ein ganz kleiner Teil der palästinischen Bevölkerung. Denn mit ihrer Kritik setzen sie ihr Leben aufs Spiel.

Magret Johannsen, Politikwissenschaftlerin mit Forschungsschwerpunkt Israel-Palästina.
Magret Johannsen, Politikwissenschaftlerin mit Forschungsschwerpunkt Israel-PalästinaBild: zvp

Und wie steht der Rest der Bevölkerung zur Hamas?

Sie ist zwiegespalten. Eigentlich ist die Hamas Israel militärisch komplett unterlegen. Trotzdem hat sie es in diesen Tagen geschafft, extrem viel Leid und Zerstörung in Israel zu verursachen. Das löste bei vielen Palästinensern einerseits eine gewisse Genugtuung aus, da sie selbst all die Jahre die Unterdrückung Israels zu spüren bekommen haben und viele Palästinenser durch die israelische Armee ums Leben gekommen sind. Viel, viel mehr als Israelis. Jahrelang haben sie sich gegenüber Israel schwach gefühlt. Nun, durch diese Angriffe, fühlen sie sich auch einmal stark. Das imponiert durchaus vielen.

Und andererseits?

Andererseits geht Israel nun umso härter gegen die Hamas vor, ebenfalls ohne Rücksicht auf Verluste in der Zivilbevölkerung. Dabei wünscht sich die große Mehrheit der Palästinenser einfach endlich Frieden. Sie haben derzeit aber nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie verschanzen sich jetzt in ihren Bunkern und akzeptieren so das brutale Vorgehen der Hamas, oder sie gehen auf die Straße, stellen sich gegen die Terrororganisation und riskieren so ihr Leben.

A relative carries the body of Amir Ganan, who was killed in an Israeli airstrike, during his funeral in Khan Younis, Gaza Strip, Tuesday, Oct. 10, 2023. (AP Photo/Hatem Ali)
Ein Verwandter trägt den Leichnam von Amir Ganan, der bei einem israelischen Luftangriff getötet wurde, während seiner Beerdigung in Khan Younis, im Gazastreifen (10. Oktober 2023).Bild: AP / Hatem Ali

Wie hat es die Hamas überhaupt geschafft, einst gewählt zu werden?

Auch eine Terrororganisation muss gewissermaßen "Gutes" tun, um die Bevölkerung auf ihre Seite ziehen zu können. In der Vergangenheit hat die Hamas darum beispielsweise dafür gesorgt, dass die knappen Ressourcen im Gazastreifen gerecht verteilt werden, dass die Elektrizität, die Versorgung funktioniert. Sie haben sich im Grunde als Organisation erwiesen, die die Zivilbevölkerung und ihre Anliegen unterstützt. Aber die Hamas hat eben – so wie viele Terrororganisationen – zwei Gesichter. Sie geht nicht nur gegen Israel mit Brutalität und Gewalt vor, sondern auch gegen die eigene Bevölkerung, wenn diese aufbegehrt.

Ist ein Frieden im Nahen Osten nun in noch weitere Ferne gerückt?

Das ist eine schwierige Frage. Die Tatsache, dass es jetzt so eskaliert ist, ist vielleicht ein Weckruf an die internationale Gemeinschaft, zu reagieren. Bisher hat der Westen die Besatzung und die Menschenrechtsverletzungen Israels ja einfach akzeptiert oder zumindest nur hinter vorgehaltener Hand kritisiert. Mit der Eskalation steigt unter den Palästinensern nun die Hoffnung, dass die Friedensbestrebungen mit internationaler Hilfe wieder aufgenommen werden.

Wie könnte ein solcher Frieden aussehen?

Ziel wäre eigentlich immer noch eine Zweistaatenlösung. Aber ich weiß nicht, ob es dafür nicht schon zu spät ist. Auch eine Einstaatenlösung, in der beide Völker auf Augenhöhe und in gegenseitigem Respekt zusammenleben, wäre möglich. Dafür müsste man jedoch die Friedensbewegungen in Palästina und in Israel gleichzeitig stärken. Nur auf diese Weise könnte diese furchtbare Eskalation vielleicht am Ende noch etwas Gutes mit sich gebracht haben.

07.10.2023, Palästinensische Gebiete, Kfar Azza: Palästinenser transportieren einen gefangenen israelischen Zivilisten aus dem Kfar Azza Kibbuz. 
Die im Gazastreifen herrschende islamistische Hamas, d ...
Hamas-Terroristen entführen Israelis in den Gaza-Streifen.Bild: AP / Hatem Ali

Dann wünscht sich auch die israelische Zivilbevölkerung ein friedliches Zusammenleben?

Teile davon, ja. Leider ist es nun mal so, dass in Israel derzeit eine hochproblematische Regierung an der Macht ist. Eine rechtsradikale Regierung, die das ganze Westjordanland annektieren will und möglicherweise noch darüber hinaus Jordanien. Diese rechtsradikale Regierung hat das israelische Volk gewählt. Nur so konnte sich Israel überhaupt in ein Land entwickeln, das nicht von der Besatzung palästinensischen Gebiets ablassen will.

Bis zu einem gewissen Grad hat also das israelische Volk diesen Weg eingeschlagen.

Ja. Und trotzdem gibt es in Israel noch sehr viele Menschen, die diese Politik ihrer Regierung bedauern, kritisieren und sich auch auf politischer Ebene für Frieden einsetzen. Freunde von mir sind beispielsweise völlig verzweifelt über den Weg, den die israelische Politik, aber auch die Mehrheit der Bevölkerung, eingeschlagen hat. Ich verstehe diese Verzweiflung gut. Ich kann nur hoffen, dass diejenigen, die Frieden wollen, nicht aufgeben werden.

Auf der Suche nach einem Experten oder einer Expertin für dieses Interview hätte ich eigentlich auch gerne mit Palästinenserinnen oder Palästinensern aus der Wissenschaft gesprochen. Bei der Suche merkte ich aber, dass diesen nicht selten Antisemitismus vorgeworfen wird. Teilweise sicher zu Recht, weil sie etwa den Holocaust relativieren oder leugnen. In anderen Fällen konnte ich den Vorwurf aber nicht nachvollziehen. Was sagen Sie dazu?

Das glaube ich. In Deutschland ist man besonders vorsichtig bei diesem Thema. Dies wegen unserer Vergangenheit, wegen des Holocausts. Ich beschäftige mich schon jahrzehntelang mit dem Nahost-Konflikt. In dieser Zeit habe ich mich immer sehr um eine nüchterne Sprache bemüht, weil ich weiß, dass man dem Antisemitismus-Vorwurf nur entgehen kann, wenn man sich wirklich sehr neutral artikuliert. Ich habe auch Herz. Aber in meinen Schriften spielt das Herz keine Rolle, sondern nur der Kopf. Dieser Balanceakt zwischen Kritik an Israel und Antisemitismus ist anstrengend, aber das ist eben so als Wissenschaftlerin, die in einem Feld voller Minen arbeitet.

Dann sind Sie ja jetzt die richtige Person, um folgende Frage zu beantworten: Inwiefern trägt Israel eine Mitschuld an der jetzigen Eskalation?

Sie trägt zumindest eine indirekte Schuld. In all diesen Jahren hat Israel eine friedliche Konfliktlösung nicht zugelassen. Das musste Israel in all seiner militärischen Stärke auch nicht.

Wie sieht aus Ihrer Sicht die nahe Zukunft im Konfliktgebiet aus?

Das ist schwer zu beantworten. Selbst wenn es Israel gelingen würde, die Hamas zu zerschlagen, wird wohl einfach eine andere Organisation früher oder später ihren Platz einnehmen. Vielleicht ja der islamische Dschihad. Denn solange die israelische Besatzung fortdauert, solange es keinen gerechten Frieden gibt, so lange wird es immer welche geben, die aus dem Konflikt ihren Nutzen ziehen werden.

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