In einem Sammelband mit dem Titel "Ukraine in Histories and Stories" schildern verschiedene ukrainische Intellektuelle ihre Sicht auf den Konflikt mit Russland. Die Politologin Hanna Shelest benutzt dazu einen krassen, aber gleichzeitig auch sehr einleuchtenden Vergleich. Sie stellt fest:
Das ist wohl die einzig adäquate Antwort auf den offenen Brief einiger Intellektueller, in dem die Ukrainer aufgefordert werden, eine diplomatische Lösung mit Putin zu finden. Was für eine diplomatische Lösung? Putin hat in seiner Rede von Montag einmal mehr bekräftigt, die mörderische Invasion sei die "einzig richtige Lösung" gewesen. Um im Vergewaltiger-Vergleich zu bleiben: Soll man Putin also erlauben, dass er die Ukraine betatschen, aber nicht penetrieren darf?
Die Ukraine waren in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts "Bloodlands", wie der Historiker Timothy Snyder in seinem gleichnamigen Buch beschreibt. (Das Buch ist auch auf Deutsch erhältlich.) Die Gräueltaten, die zwischen 1920 und 1950 in diesem Teil der Erde begangen wurden, übersteigen unser Vorstellungsvermögen.
Wenn also der Soziologe Harald Welzer – einer der Unterzeichner des ominösen Briefes – bei "Anne Will" Andrij Melnyk, dem ukrainischen Botschafter, Lektionen in Sachen eskalierende Gewalt geben will, dann muss das in dessen Ohren bloss zynisch klingen. Und wenn ausgerechnet Alice Schwarzer die Ukrainer zum Kompromiss auffordert, dann erinnert dies fatal an den Ratschlag, den die Briten zur Hochblüte des Kolonialismus ihren Frauen gegeben haben. Er lautete: Im Falle einer Vergewaltigung sollten sie sich nicht wehren, sondern sich zurücklehnen und an England denken.
Das Problem der Ukraine und ihrer Bewohner liegt darin, dass wir wenig bis nichts über ihre Geschichte wissen. Bis vor Kurzem wussten wir auch noch nichts mit dem Begriff "Holodomor" anzufangen, der von Stalin künstlich verursachten Hungerkatastrophe, in der rund fünf Millionen Menschen auf erbärmlichste Art und Weise starben. Zu effektiv war die sowjetische Propaganda, zu groß unsere Gleichgültigkeit.
Die Unkenntnis verleitet uns noch heute, ahnungslos auf russische Propaganda hereinzufallen. Beispielsweise auf die These: Schuld an Putins Krieg sei die Nato-Osterweiterung. Die von Zweiten Weltkrieg immer noch traumatisierten Russen hätten doch Anrecht auf eine Pufferzone. Auch darauf hat Hanna Shelest die passende Replik:
Andrii Portnov, ein in Deutschland lehrender Geschichtsprofessor, macht im erwähnten Buch auf ein weiteres Vorurteil aufmerksam. "Viele Deutsche bringen die Ukrainer in Verbindung mit Kollaborateuren und die Russen mit Opfer." Tatsächlich wurden die Deutschen bei ihrem Einmarsch zunächst als Befreier gefeiert – kein Wunder, angesichts des Holodomors. Doch danach haben die Ukrainer sich entschlossen auf die Seite der Roten Armee gestellt und haben dabei den höchsten Blutzoll aller Provinzen der UdSSR erlitten.
Die Ukrainer setzen dem russischen Zentralismus einen demokratischen Föderalismus entgegen. Oder wie es der Philosoph Wolodymyr Yermolenko in der erwähnten Essay-Sammlung formuliert:
In seiner Rede hat Putin einmal mehr der Ukraine das Recht auf Souveränität abgesprochen. (Hitler hat übrigens seinerzeit den Überfall auf Polen auf die gleiche Art gerechtfertigt, das nur so nebenbei.) Die Ukrainer setzen sich auf heroische Weise dagegen zu Wehr und verteidigen damit auch die westliche Demokratie. Deshalb haben wir kein Recht, ihnen wie auch immer gemeinte Kompromiss-Ratschläge zu erteilen. Wir haben einzig die verdammte Pflicht, sie dabei nach unseren Möglichkeiten zu unterstützen.