Der 11. September 2001 hat das Leben vieler Menschen verändert. Nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland und dem Rest der Welt. Insgesamt knapp 3.000 Menschen aus 92 Ländern wurden Opfer der Terroranschläge in New York, Washington und im US-Bundesstaat Pennsylvania. Der Afghanistaneinsatz der Nato, der auf die Anschläge 2001 folgte, zog sich 20 Jahre hin und endete gerade erst – in einem humanitären Desaster.
Besonders stark haben viele People of Color (PoC) die Veränderungen gespürt. Viele von ihnen haben seit den Anschläge, die von islamistischen Terroristen begangen wurden, besonders stark unter Vorurteilen zu leiden. Vor allem dann, wenn sie Muslime sind – oder andere sie als Muslime wahrnehmen. Auch in Deutschland.
Watson hat mit deutschen People of Color darüber gesprochen, wie sich ihr Leben seit den Anschlägen verändert hat.
Lamya Kaddor sagt, als sie am 11. September 2001 von dem Anschlag erfahren habe, sei ihr erster Gedank gewesen: "Hoffentlich waren das keine Palästinenser." Sie sei damals auf dem Weg an die Nordseeküste gewesen, zu einer Kur. Kaddor war damals 23 Jahre alt. Nachdem klar wurde, dass der Anschlag von Islamisten begangen worden war, habe sie gewusst, dass die kommenden Jahre hart würden.
Gegenüber watson spricht sie von drei Phasen, die sie als Muslima in Deutschland erlebt habe: Die Zeit vor dem Anschlag, die ersten zehn Jahre nach dem Anschlag und die Zeit bis heute.
Kaddor beschreibt die Veränderung so:
"Arabisch = Islamistisch = Terror", so nennt Kaddor den Dreiklang, der sich nach den Anschlägen in den Köpfen vieler Menschen eingenistet habe. Mittlerweile habe sich die Angst wieder gelegt. Kaddor erklärt das damit, dass sich die Erinnerung an den Anschlag langsam verwachse. Er sei im kollektiven Gedächtnis nicht mehr dauerhaft präsent.
Doch nicht nur die Art und Weise, wie Menschen mit ihr umgingen und sie betrachteten, habe sich durch die Anschläge verändert – sondern auch ihr Studienfach. Kaddor sagt: "Vorher war Islamwissenschaften ein kulturwissenschaftliches Fach, im Wintersemester nach den Anschlägen war es plötzlich ein politisches." Ihr Jahrgang bestand aus acht Menschen. "Im Wintersemester 2001 waren es plötzlich 200 Menschen, die Arabistik und Islamwissenschaften studieren wollten", sagt sie.
Nicht nur ihr Studium politisierte sich, sondern auch Kaddor selbst. "Der 11. September 2001 hat mich politisiert und er hat meine Biografie verändert", sagt sie. Und das gilt ihrer Meinung nach für viele deutsche Muslime. Auch aufgrund der Debatte, die im Grunde bis heute anhalte: Nämlich die, ob der Islam zu Deutschland gehört. "Noch immer gibt es politisches Personal, das aus ideologischen Gründen nicht zwischen Islam und Islamismus differenzieren will", sagt Kaddor.
Mo Mohtadi (Name von der Redaktion geändert) ist 38 Jahre alt, seit 32 Jahren lebt er in Deutschland. Genauer gesagt, im Ruhrgebiet. Geboren ist er im Iran. Als er sechs Jahre alt war, sind seine Eltern mit ihm und seinem kleinen Bruder geflohen – vor dem islamistischen Regime, das seit Ende der 1970er Jahre im Land herrscht. Mohtadi ist konfessionslos, trotzdem wird er aufgrund seines Aussehens häufig als Muslim wahrgenommen.
Als die Flugzeuge in die Zwillingstürme von New York flogen, war Mohtadi 18 Jahre alt. Er habe den Anschlag gemeinsam mit seinem Bruder auf NTV verfolgt, im heimischen Wohnzimmer. Dass er sich später noch häufiger für eine Religion, die nicht die seine ist, rechtfertigen müssen würde, sei ihm zu dem Zeitpunkt noch nicht bewusst gewesen.
Er sagt:
Zwar habe er auch vorher schon oft erklären müssen, wo genau er herkomme oder wie das eigentlich mit dem Wahlrecht in Saudi-Arabien sei – in dem arabischen Emirat dürfen Frauen erst seit 2015 wählen – nach 9/11 waren diese Themen allerdings deutlich präsenter auf der gesellschaftlichen Agenda. "Der Stempel muslimisch, arabisch und Nah-Ost wurde uns immer aufgedrückt", sagt Mohtadi.
Was ihn ärgert? Dass nie gefragt werde, ob er dem Islam angehört, sondern direkt davon ausgegangen werde. "Mir wurde immer angedichtet, ich würde nichts mit Mädchen zu tun haben wollen, aufgrund meiner vermeintlichen Religion – dabei war ich einfach schüchtern", sagt er. Mit Angst oder Argwohn seien ihm die Menschen allerdings nicht begegnet.
Und auch unsicher hat er sich aufgrund seines Aussehens nur selten gefühlt. "Nach der Kölner Silvesternacht habe ich direkt einer Freundin gesagt 'Oh Scheiße, jetzt muss ich aufpassen, dass ich irgendwie nicht von irgendwelchen selbsternannten Bürgerwehren angegriffen werde'", sagt Mohtadi. Einmal habe er sich sogar ihr Pfefferspray geliehen, um sich auf dem Weg nach Hause sicherer zu fühlen.
Mohtadi kann sich vorstellen, dass jetzt, da der radikale Islam mit den Taliban wieder seinen Platz in den Medien und im öffentlichen Diskurs gefunden hat, die Skepsis gegenüber Muslimen oder vermeintlichen Muslimen wieder steigen könnte. Er sagt:
Serap Güler, die Staatssekretärin für Integration im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen, war 21 Jahre alt, als die Flugzeuge in das World Trade Center flogen. Aufgewachsen ist sie als Kind einer türkischen Einwanderungsfamilie im Ruhrgebiet.
"Bis 9/11 stand meine Religion, mein Glaube nicht im Vordergrund", sagt sie gegenüber watson. Danach allerdings schon: "Seitdem bin ich für viele vor allem eines: Muslimin." Es seien aber nicht nur Islamhasser, die ihr dieses Label verpassten, sondern auch Muslime.
Güler sagt:
Zusammenfassend, sagt sie, sei es nach 9/11 schwieriger geworden, Muslimin zu sein.
Die Familie von Sophie Mukongo (Name von der Redaktion geändert) ist in den 1990er Jahren aus dem Kongo nach Deutschland geflohen. Sie ist Deutsche, hier geboren und aufgewachsen. Trotzdem wird sie oft gefragt, wie es ihr in Deutschland gefalle. Der Grund dafür: ihre Hautfarbe. Dass sich Schwarze erklären müssten, gefragt würden, woher sie wirklich kämen, das sei schon immer so gewesen. "Ich glaube, uns Schwarze in Deutschland hat der 11. September nicht in dem Sinne getroffen, dass wir danach eher verdächtigt oder sonst anders behandelt wurden", sagt Mukongo.
Sie selbst war damals noch sehr jung, gerade einmal fünf Jahre alt. Aber auch von ihrer Familie hat sie noch nie etwas anderes gehört. "Ich denke, wenn Menschen rassistisch sind, ist das ein grundsätzliches Ding. Das hat dann nichts mit dem 11. September zu tun", sagt Mukongo. Ihrer Erfahrung nach beschränkt sich der gewachsene Argwohn auf Menschen, die dem Islam angehören oder so gelesen werden können.
Der Großteil der Schwarzen in Deutschland sei christlich. "Ich habe bisher vielleicht eine Handvoll schwarzer Frauen in Deutschland gesehen, die ein Kopftuch getragen", sagt Mukongo. Sie fügt an: "Ich kann mir vorstellen, dass die nicht viel zu lachen haben. Schließlich sind sie doppelt benachteiligt."
Emel Tan (Name von der Redaktion geändert) kommt aus der Nähe von Dortmund, sie ist 38 Jahre alt und Muslimin. Am 11. September 2001 war sie 18. Und ihr war direkt klar, dass sich für sie und alle anderen Muslime in Deutschland, Europa und den USA einiges ändern würde. Dass sie unter Generalverdacht gestellt werden würden.
"9/11 hat das Klima verändert", sagt sie. Im direkten Gespräch mit Mitbürgern habe sie das zwar nicht gespürt – es sei eher ein Gefühl gewesen. Dafür aber habe sich der Ton der Berichterstattung in den Medien geändert. "Das hat das Ganze nicht einfacher gemacht", sagt Tan. Seither müsse sie sich immer wieder für ihre Religion rechtfertigen. Emel Tan trägt ein Kopftuch. Unsicher habe sie sich zwar nie gefühlt, trotzdem gebe es Gebiete in Deutschland, die sie meide.
Sie berichtet:
Wie weitreichend die Folgen des Terroranschlages tatsächlich waren, sieht Tan bis heute. Nämlich dann, wenn sie ihre eigene Schulerfahrung mit der ihrer Kinder vergleicht:
Tan findet, es reiche nicht, die westliche Sicht der Ereignisse und ihrer Folgen zu lehren. Vielmehr müsse auch gelehrt werden, wie mit muslimischen Menschen nach den Anschlägen der Terroristen umgegangen wurde – auch, um Rassismus und Ressentiments vorzubeugen. Und vor allem, um die muslimischen Schülerinnen und Schüler nicht in die Position zu drängen, sich selbst verteidigen zu müssen.
Sie sagt: "Aber leider haben die Lehrenden nicht den Weitblick und nicht die Sensibilität oder den vorurteilsfreien Blick auf andere Religionen und auch auf Andersdenkende."
Als Mutter hat sie den Eindruck, dass die Vorurteile und der Rassismus, mit dem sich die Kinder heutzutage in der Schule rumschlagen müssen, zugenommen haben. "Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich finde schon, dass das eine noch heftigere Zeit ist als die, in der ich in der Schule war."