Die AfD ist in Sachsen und Thüringen beliebt; die Gründe sind vielseitig.Bild: imago images / xcitepress
Meinung
Schicksalswahl. Politisches Erdbeben. Schockstarre.
Phrasen, die ich zu den Wahlen in Ostdeutschland nicht mehr hören kann. Die AfD hat kräftig abkassiert; sie reißt sich meine Heimat unter den Nagel und ich frage mich seit zehn Jahren: Wo bleibt der verdammte Aufschrei?
Während die CDU so sehr damit beschäftigt ist, die Grünen zu verteufeln und gegen die Ampel zu schießen, breitet sich die blaue Welle in Ostdeutschland mehr und mehr aus. Der Damm ist gestern Nacht gebrochen: Wie viele Menschen haben gebuddelt, geschaufelt, geschuftet, um die Brandmauer zu halten?
CDU-Chef Friedrich Merz gratuliert Michael Kretschmer (M.) und Mario Voigt (r.) nach der Ostwahl.Bild: dpa / Michael Kappeler
Aktivist:innen, Initiativen und Organisationen, die sich für Demokratie einsetzten – sie wurden allein gelassen und das seit Jahren.
Im Osten nichts Neues: Dann kam Pegida, dann die AfD
Zu dem Wahldebakel und AfD-Sieg folgt sicher wieder eine rhetorisch-brillante Rede von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne); dazu irgendwelche Schachtelsätze von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und ein Seufzer "wie bitter" all das sei, als wäre ihm sein Fischbrötchen auf den Boden gefallen.
Als Sächsin frage ich mich, ob wir den Schuss noch nicht gehört haben?
Im Grundschulalter bin ich unter Springerstiefeln aufgewachsen und musste mir als Kind erklären lassen, was "Skinheads" bedeutet. Ich erlebte die Nachwehen der "Baseballschlägerjahre", wo es an der Tagesordnung war, dass rechte Schlägerbanden etwa Linke oder Menschen mit Migrationshintergrund jagten.
Jetzt kommt der ganze Mist zurück – beziehungsweise war er nie richtig weg; er wurde nicht tiefgründig aufgearbeitet, viel mehr unterdrückt – das Wende-Chaos, die Ängste, das herablassende "Ossi", die zerfallenden Dörfer ohne Bus und Supermarkt, die endlosen Kopfsteinpflaster, über die ich schon als Kind mit dem Fahrrad holperte.
1991 in Leipzig: Die DDR verschwand nach dem Mauerfall nicht einfach von heute auf morgen.Bild: imago images / Jochen Eckel
2024 gewinnt eine vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestufte Partei haushoch eine Landtagswahl. "Alles blöde Nazis", höre ich oft im Westen mit einem energischen Kopfschütteln. Der Osten des Landes wird abgewunken, wie ein schwarzes Schaf der Familie, das man komisch findet und duldet, und irgendwie heimlich schon aufgeben hat.
Die AfD ist in Sachsen und Thüringen "für die Menschen da"
Wie oft haben denn diejenigen, die jetzt am lautesten über Ostdeutschland herziehen, Sachsen und Thüringen schon bereist? Haben sich mit den Menschen vor Ort ausgetauscht; und damit meine ich nicht einen Minister Habeck, der sich mit geladenen Gästen bei einem Medienevent in Leipzig "kritisch" auseinandersetzt.
Die AfD ist präsent bis in die hinterste Ecke im ländlichen Gebiet Sachsens bei der Bauernfamilie Müller und bis zum Vorstadt-Neubau, in dem sich die alleinerziehende Friseurin Angelika zwei Zimmer mit ihren Kindern teilt.
Am Stammtisch, im Supermarkt, im Freibad, im Garten bei Familienfesten ist die AfD am lautesten. Die nette Kassiererin; der erfolgreiche Unternehmer; der immer gut gelaunte Postbote; der Nachbar, der mich seit Kindertagen mit komischen Witzen zum Lachen bringt: Plötzlich kommen Sätze aus ihrem Mund, die einen erschrecken lassen:
Hetze gegen die faulen Ausländer:innen, die bösen Amis, und die korrupten "die da oben", die der Ukraine die Steuergelder ins Maul werfen, während "wir Bürger zweiter Klasse sind".
Diese Menschen erleben einen Zerfall, keinen Wiederaufbau. Ältere fühlen sich sozial benachteiligt und ihrer Lebensleistung nicht anerkannt, während Perspektivlosigkeit die jungen Leute in den Westen vertreibt.
Ich bin seit zehn Jahren über diese Entwicklung in meiner Heimat traurig. Mit der Gründung der rechtsextremen Organisation Pegida 2014 zogen plötzlich Leute durch vertraute Straßen in Sachsen und grölten offen fremdenfeindliche und rechte Parolen. Hitlergruß und Hakenkreuze wurden wieder alltagstauglich.
Pegida ebnete den Weg zum Aufstieg der AfD in Ostdeutschland – schleichend, beinahe leise, direkt vor unseren Augen und ich fragte mich, ob auch ich meinen Kindern in Zukunft erklären müsste, was Springerstiefel und Skinheads seien.
Björn Höcke bei einer Kundgebung der islam- und fremdenfeindlichen Pegida-Bewegung in Sachsen.Bild: dpa-Zentralbild / Sebastian Kahnert
Der Wahlerfolg der AfD ist keine Überraschung für mich – weder ein Schock à la "jetzt geht die Welt unter", (die Sonne sinkt im Osten seit einem Jahrzehnt stetig und jetzt ist sie im Keller angekommen) und noch immer kein Aufschrei – "ist ja nur der Osten".
Das dachte man sich beim Aufstieg der NSDAP und Adolf Hitler damals wohl auch.
AfD-Propaganda breitet sich wie Krebsgeschwür aus
In Thüringen feierten die Nationalsozialist:innen ihren ersten parlamentarischen Sieg: Nach den Landtagswahlen 1929 wurde die NSDAP zum ersten Mal an der Regierung eines Landes beteiligt. Wilhelm Frick wurde zum ersten nationalsozialistischen Minister Deutschlands.
Im national gesinnten Bürgertum Weimars fiel die Propaganda der Nationalsozialist:innen auf fruchtbaren Boden. Haben wir nichts aus der Geschichte gelernt?
Ich verliere meine Heimat an rechtsextreme Kräfte und ich will einen verdammten Aufschrei, Herr Scholz! Keine tatenlosen Phrasen, keine gefährliche Annäherung an AfD-Gedankengut und plötzliches Umschwenken in der Migrationspolitik, um Wähler:innen wieder einzufangen. Die Regierung muss endlich anpacken, klarer kommunizieren und fühlbare Lösungen liefern.
Kanzler Olaf Scholz (SPD) geht im Schatten der AfD in Ostdeutschland unter.Bild: dpa / Christoph Soeder
Die Menschen stecken teils tief in der Propagandamaschine fest – es muss schon jemand vor Ort kommen und ihnen eine Hand reichen, um sie da rauszuziehen. Ich kenne so viele Einzelkämpfer:innen, die ihre Eltern, ihre Großeltern, Geschwister oder sogar Partner an ihrer Hand halten, damit sie nicht vollends im AfD-Sumpf versinken.
Wo ist der Rettungsgriff der Regierung für Ostdeutschland? Menschen, die versuchen, die Demokratie zu retten, brauchen einen stützenden Griff der demokratischen Parteien um die Hüfte.
Aber anscheinend muss erst immer alles vor die Hunde gehen, bevor wir aufwachen. Und das nervt!
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AfD-Erfolg in Sachsen und Thüringen: Herr Scholz, es muss etwas passieren!
Es ist ungerecht gegenüber jenen jungen Menschen, die wir der AfD scheinbar kampflos überlassen. Es ist nicht fair, den kommenden Generationen einfach ein rechtsextremes, menschenverachtendes, auf Lügen und Hass basierendes AfD-Land zu hinterlassen – und jetzt schlage ich nicht mal das "Klimakatastrophen-Kapitel" auf. Das ist angesichts der krisenhaften Zeit derzeit sowieso fest zugeschlagen.
Thüringen und Sachsen sind Deutschland; egal wie groß der Bevölkerungsanteil ist. Man kann den AfD-Erfolg nicht einfach verdrängen, wie diesen kleinen Schmerz am Backenzahn, der bei einem kalten Getränk aufflammt und man hofft, dass er einfach wieder verschwindet. Meistens landet man dann doch beim Zahnarzt; oft ist es zu spät.
Es muss sich etwas ändern.
Die Menschen wollen Taten, keine Worte. Es geht um Aufklärung an Schulen, Auffangen von sozialen Ängsten und Abschirmen von Propaganda, die von Moskau ins Land schwappt.
Eine Regierung ist nicht perfekt. Es liegt Stärke darin, Fehler und Probleme offen auszusprechen und vor allem braucht es mehr Menschlichkeit in der Politik: Sorgen ernst nehmen und keine robotisch auswendig gelernten, unnahbaren Phrasen, die man schon so oft gehört hat, dass die Wörter zu einem einfarbigen Klang verstummen.
Denn genau in dieser Stille nistet die AfD, schreit am lautesten und befeuert Emotionen.
Ich stehe am gebrochenen Damm und sehe all die Menschen, die anpacken, um die blaue Flut aufzuhalten. Die CDU-Sachsen hat sich derweil ein Surfbrett gebastelt und reitet die blaue Welle, um über Wasser zu bleiben. Auch im Bund findet CDU-Chef Friedrich Merz diesen Plan wohl ansprechend und nähert sich der AfD mit seinen populistischen Aussagen an.
Und die restlichen demokratischen Parteien: Nehmt ihr endlich eine Schaufel in die Hand und beginnt die Arbeit, anstatt nur schönzureden?
Es ist an der Zeit.
Jetzt.