Vergiss Anonymous! Das derzeit einflussreichste Internet-Kollektiv hat ein nettes Hundegesicht, kann aber ziemlich böse zubeißen.Bild: Getty Images Europe / Sean Gallup
International
Die Internet-Freiwilligenarmee NAFO bekämpft prorussische Propagandisten und Putin-Trolle in ihrem natürlichen Habitat. Frech und unermüdlich. Und sie leistet noch sehr viel mehr.
Daniel Schurter / watson.ch
Es ist eine verrückte Geschichte. Und sie passt perfekt zur Ukraine.
Ein von einem übermächtigen Gegner bedrohter, wilder Haufen wächst über sich hinaus und zeigt der Welt, was Solidarität und unbändige Freiheitsliebe bewirken können.
Die Rede ist von der NAFO.
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Es handelt sich um eine Freiwilligenarmee, die unerschrocken für die Ukrainerinnen und Ukrainer kämpft, sie unterstützt und ihnen beisteht. Und vor allem: in einer himmelschreiend ungerechten Lage zum Lachen bringt.
Ihr Schlachtfeld: das Internet.
Ihre wichtigsten Waffen: Beharrlichkeit und schwarzer Humor. Viel schwarzer Humor, wie wir gleich sehen.
1. Warum NAFO?
Der Name ist natürlich eine Anspielung auf das westliche Sicherheits- und Verteidigungsbündnis, das kürzlich in Litauens Hauptstadt Vilnius sein Gipfeltreffen abhielt.
Das englische Kürzel steht für North Atlantic Fella Organization.Bild: twitter / wikimedia fair use Die Nato (französische Abkürzung: Otan) besteht aus 31, respektive bald 32 europäischen und nordamerikanischen Mitgliedstaaten, die sich verpflichten, einander militärisch beizustehen. Und auch die Nafo ist ein Verteidigungsbündnis, wenn auch ein zivilgesellschaftliches. Zudem gehen die Mitglieder auch gern zum Angriff über und stiften Verwirrung.
Ihre Mitglieder kämpfen für die Ukraine und für unsere Freiheit. Sie nehmen prorussische Demokratiefeinde überall dort aufs Korn, wo sie ihren Schmutz, ihre Beleidigungen und Lügen verbreiten, und schlagen mit geballter Kraft zurück.
Untereinander bezeichnen sich die Mitstreiterinnen und Mitstreiter als "Fella", was so viel wie Kumpel bedeutet. Und alle Fellas weltweit eint der Wille, Putins mächtigem Propaganda-Apparat und der staatlich finanzierten Desinformation etwas wirklich Wirksames entgegenzusetzen:
Solidarität und freche Memes.
Etwa so:
2. Wie fing es an?
Am Anfang war ein Cartoon-Hündchen. Ein Shiba Inu, um genau zu sein. Das ist ein japanischer Jagdhund. Seit mindestens 2013 ist dessen Konterfei als Internet-Meme bekannt.
Die Idee zu den Cartoon-Hunden kam von einem aus Polen stammenden Mann namens Kamil Dyszewski. Er "bastelte" erste Exemplare am PC und verschickte sie ab Mai 2022 an Leute, um ihnen für Spenden zugunsten der Ukraine und ihrer Verteidigerinnen und Verteidiger zu danken.
Dazu sagte er:
"Jemand nannte uns die neue NATO oder so etwas in der Art und ich antwortete einfach mit 'NAFO'. Dann nahm ich das NATO-Abzeichen, änderte 'NATO' in 'NAFO' und fügte den Kopf eines 'Fellas' hinzu, der herausschaute."
Dass er damit eine weltumspannende Internet-Bewegung begründen würde, konnte er nicht ahnen.
3. Wer macht mit?
Heute besteht die Nafo aus Freiwilligen rund um den Globus. Ihre genaue Mitgliederzahl ist nicht bekannt. Sie sind Legion, könnte man in Anlehnung an Anonymous sagen. Tatsächlich dürften es bereits über 30.000 Mitglieder sein.
Bekanntester "Fella" ist die Premierministerin von Estland, Kaja Kallas. Und da vor dem Nato-Gipfel erstmals auch ein Nafo-Gipfel stattfand, richtete die Politikerin ein offizielles Grußwort an die weltweite Community.
Auf großen Social-Media-Plattformen wie Twitter und Reddit erkennt man die Nafo-Unterstützer:innen an einem personalisierten Hunde-Avatar. Diese schrägen Figuren, die häufig kämpferisch daherkommen, stammen aus der sogenannten Schmiede, auf Englisch The Forge.
Auch du kannst übrigens ganz einfach mitmachen: Wie das geht, erfährst du weiter unten.
4. Wie konnte die Chaotentruppe so populär werden?
"Es ist eine dezentralisierte Bewegung ohne Anführer oder Idole. Führungspersönlichkeiten und Hierarchien sind der Hauptgrund für das Sterben von Social-Media-Bewegungen", sagt Pekka Kallioniemi auf Twitter – ein bescheidener Finne und Doktor der Philosophie, der an der Universität von Tampere im Bereich "Mensch-Computer-Interaktion" forscht. Die Nafo habe ihm geholfen, als es sonst niemand tat.
Sein Spezialgebiet: russische Desinformation.
Falls dir schon mal der Hashtag #Vatniksoup begegnet ist, dann hast du Kallioniemi in seinem Element erlebt. "Vatnik" ist eine in ehemaligen Sowjetstaaten geprägte, abwertende Bezeichnung für diejenigen Personen, "die blind der russischen Propaganda folgen oder sie verbreiten."
Kallioniemi prangert im Internet Personen an, die öffentlich für Kriegsverbrecher Partei ergreifen, den russischen Angriffskrieg verharmlosen und Diktator Putin huldigen. So wie zum Beispiel Roger Köppel und Daniele Ganser.
"Als ich im Oktober 2022 begann, #vatniksoup zu schreiben, kam die meiste Aufmerksamkeit von den Cartoon-Hunden. Sie verbreiteten meine Botschaft, sie folgten mir und empfahlen meine Inhalte", sagt Kallioniemi.
Zuletzt konnte Kallioniemi mit tatkräftiger Unterstützung der Nafo-Community einen der größten Pro-Putin-Accounts bei Twitter enttarnen: Hinter der Fake-News-Schleuder @Trollstoy88 (mit 115.000 Followern) steckte kein Russe, sondern ein bei Düsseldorf wohnender Deutscher.
5. Was ist das Geheimrezept der Nafo?
Bekanntlich lässt Russlands Machthaber Putin nicht nur einen völkerrechtswidrigen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine führen. Der autokratische Unrechtsstaat attackiert auch westliche Demokratien und versucht insgeheim, die freiheitlichen Gesellschaften zu destabilisieren.
Die Nafo sei auf vielen Ebenen tätig, erklärt der finnische Wissenschaftler Pekka Kallioniemi, den wir oben bereits kennengelernt haben. "Sie finanziert per Crowdfunding den ukrainischen Kampf gegen Russland. Und sie kämpft gegen russische Desinformation in den sozialen Medien."
Die ungewöhnliche Internet-Bewegung sei äußerst wirksam gegen einen russischen Propaganda-Stil, den Kallioniemi als "Feuerwehrschlauch der Unwahrheit" bezeichnet (Firehose of Falsehood).
Dies sei eine gängige Strategie des Kremls für russische Informationsoperationen. Ziel ist es, den Feind (hier die demokratischen Gesellschaften im Westen) mit irreführenden und verunsichernden Botschaften quasi zu überfluten. Die Feuerwehrschlauch-Analogie stamme aber nicht von ihm, erklärt er in einem lesenswerten Twitter-Thread (siehe unten).
Halten wir fest: Russischen Internet-Trollen – ob staatlich finanziert oder in privater Mission – ist nicht mit klugen Sätzen und stichhaltigen Argumenten beizukommen. Denn sie machen alles mit dem Feuerwehrschlauch nieder.
Die Nafo debattiert oder argumentiert deshalb nicht "mit schlechten Schauspielern wie den russischen Diplomaten", sondern bekämpft ihre Lügen mit Shitposting.
Shitposting
In der Internetkultur bezeichne Shitposting die Nutzung eines Online-Forums oder einer Social-Media-Seite, um Inhalte zu verbreiten, die satirisch und von "aggressiv, ironisch und trollig schlechter Qualität" seien, weiß
Wikipedia.
Shitposting sei eine moderne Form der Online-Provokation. Der Begriff selbst tauchte etwa Mitte der 2000er-Jahre auf Imageboards wie 4chan auf, aber das Konzept sei nicht neu: "Die Kunstbewegung Dadaismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts schuf Kunst, die absichtlich minderwertig oder anstößig war, um die Kunstwelt zu provozieren."
6. Wie wichtig ist die Unterstützung der Nafo im Ukraine-Krieg?
Enorm wichtig. Darin sind sich unabhängige Fachleute und politische Führungsfiguren einig.
Das US-Journal "Foreign Affairs" hat am Dienstag einen aufschlussreichen Artikel zu den außergewöhnlichen Verbündeten der Ukraine veröffentlicht. Die Verfasser, drei amerikanische Wissenschaftler, darunter ein Militärprofessor am U.S. Naval War College, würdigen die Verdienste der Nafo, deren Beitrag sich auf "neue Strategien zur Störung oder Kompromittierung der russischen Streitkräfte" erstrecke.
Da sich die nicht-staatliche Hilfe, wie sie die Nafo leistet, auf die Bemühungen einer "vernetzten Zivilgesellschaft in der ganzen Welt" stütze, verschaffe sie einen Vorteil, mit dem autoritäre Gegner nicht mithalten können.
Die "Grassroots-Bewegung" stelle neben dem Kampf gegen russische Desinformation nachrichtendienstliche Analysen bereit, sowie auch Fahrzeuge, modifizierte Drohnen für den Kampfeinsatz und Hilfsgüter für die Ukraine.
Und möglicherweise auch mehr als das:
"Mehrere Mitglieder der dezentralen NAFO-Hierarchie räumen ein, dass die Gruppe möglicherweise auch Sabotage-Aktivitäten von Separatisten innerhalb Russlands unterstützt, einschließlich Angriffen auf die Infrastruktur, Treibstoffdepots und Eisenbahnlinien, was die russischen Kriegsanstrengungen und die Logistik weiter erschwert hat."
quelle: foreignaffairs.com
Der Westen müsse "den erheblichen Einfluss anerkennen, den scheinbar kleine Aktionen nichtstaatlicher Akteure auf den Krieg in der Ukraine haben", halten die "Foreign Affairs"-Autoren in ihrem Fazit fest.
"In einem komplizierten, langwierigen Krieg mit vielen verschiedenen Sicherheitsanforderungen können informelle Beiträge von Freiwilligen und Gruppen, die über besondere militärische, technologische und medizinische Fachkenntnisse verfügen, die Leistung auf dem Schlachtfeld erheblich steigern."
7. Wie reagiert Russland?
Der Kreml und seine Propaganda-Experten haben längst erkannt, dass die Nafo ein gefährlicher Gegner ist. Und so versuchen prorussische Kräfte mit allen Mitteln, das Internet-Kollektiv und dessen Mitglieder zu verunglimpfen.
Dass die Aktivist:innen auch mal übers Ziel hinausschießen, belegt ein aktueller Vorfall. Der bezog sich auf das jüngste Nato-Gipfeltreffen in Vilnius. Und auf einen Plüschhai mitsamt Schwimmringen, die auf Fotos und Videos zum Event nicht zu übersehen waren.
Die Auflösung gab die Twitter-Userin gleich selbst: Die von russischen Bomben zerstörte ukrainische Stadt Mariupol (also das Bild links) – ein Kriegsverbrechen – scheine die Russen nicht zu stören. Hingegen provozierte ein fragwürdiger Scherz über einen tragischen Unfall einen Shitstorm.
Der Plüschhai bezieht sich auf ein Meme, das offenbar Mitte Juni von einem Nafo-Mitglied verbreitet worden war. Darin wurde ein Hai als "Angestellter des Monats" gekürt – in Anspielung auf einen Haiangriff, bei dem ein russischer Tourist in ägyptischen Hurghada ums Leben kam.
Das "Internetphänomen" – wie die Gruppierung bei Wikipedia genannt wird – erhielt wegen der makabren Aktion Beachtung von höchst unerwarteter Stelle. Das russische Außenministerium sah die Gunst der Stunde gekommen, um für einmal nicht die Nato, sondern die Nafo zu verleumden.
In einem über das Profil des russischen Außenministeriums verbreiteten Tweet wurde auf ein Telegram-Posting von Maria Sacharowa verlinkt, das wir nicht im Detail wiedergeben.
Fakt ist: Als Sprachrohr des Kremls verbreitet Sacharowa Desinformation, hat aber auch wiederholt mit Wutausbrüchen und Beschimpfungen für Schlagzeilen gesorgt.
Aus Nafo-Sicht ist die 47-jährige Russin ein absoluter Endgegner. Und so reagierte das Kollektiv prompt und es hagelte Memes. In allen Tonarten und Schattierungen.
Es half dem Ansehen der russischen Zivilgesellschaft nicht, dass sich auch die oppositionelle russische Journalistin und Vorsitzende von Alexei Nawalnys Antikorruptionsstiftung, Maria Pewtschich, noch zu Wort meldete. Denn sie nahm ebenfalls die Position der russischen Regierung ein.
8. Kann ich die Nafo unterstützen?
Ja, du kannst ganz einfach "Fella" werden. Auf der Website nafo-ofan.org wird erklärt, wie es geht:
- Man spendet einen kleinen oder größeren Betrag an eine Hilfsorganisation, die die Ukraine unterstützt. Oder man kauft Merchandise-Artikel, deren Erlös ebenfalls für die Verteidigung gegen Russland verwendet wird.
- Dann schickt man den Spenden- oder Kaufnachweis (in Form eines Screenshots) per E-Mail an die sogenannte "Schmiede" (auf Englisch The Forge). Dabei lässt sich auch wünschen, wie der eigene Fella aussehen und mit welchen Accessoires die Figur ausgestattet sein soll.
- Nun ist Geduld gefragt, denn es kann einige Tage dauern, bis der gewünschte Fella per E-Mail-Attachment eintrifft. Die Nachfrage übersteigt die Produktionskapazitäten bei Weitem – und dies, obwohl die Fella-Schmiede inzwischen aus einem Team von fast 70 Freiwilligen besteht.
Quellen