Carola Rackete. Dieser Name dürfte den meisten Personen vor allem in Zusammenhang mit Fluchtbewegungen bekannt sein. Sie zog 2019 den Zorn des damaligen italienischen Innenministers Matteo Salvini auf sich. Als Kapitänin am Steuer der Sea-Watch 3 rettete sie aus Libyen kommende Geflüchtete im Mittelmeer aus Seenot.
Nach wochenlangem Warten auf eine Genehmigung legte sie schließlich ohne diese auf Lampedusa an – und wurde festgenommen. Untersuchungshaft. Später stellte ein Gericht fest: Rackete hatte nur ihre Pflicht erfüllt. Für die Zivilcourage erhielt sie den Karl-Küpper-Preis, wurde ein Gesicht für die Fluchtbewegung. Ungewollt.
Heute sieht ihr Alltag ganz anders aus. Ihre Werte haben sie in die Politik getrieben, sie will als Parteilose für die Linke in das EU-Parlament. Gemeinsam mit ihrem Team, bestehend aus fast nur ehrenamtlichen Umweltaktivist:innen, arbeitet sie darauf hin. Öffentlichkeitsarbeit, Wahlkampf und Gespräche mit Menschen gehören dazu. Ihr Erscheinungsbild aber entspricht nicht dem, wie sich die meisten wohl eine Politikerin vorstellen würden.
Carola Rackete trägt eine orange Regenjacke, eine schwarze Outdoor-Hose und abgetragene Sneaker, während sie Mitte März über das Gelände einer sozialen kooperativen Landwirtschaftsgenossenschaft bei Leipzig geführt wird. Die 35-Jährige trägt Dreadlocks.
Sie ist ungeschminkt, wirkt zurückhaltend. Fast unscheinbar. Doch sie zeigt sich interessiert, hört den Ausführungen des Vorstands Jan-Felix Thon zu. Währenddessen verarbeiten die Mitarbeitenden auf dem Kola-Genossenschaftsgelände Kohlrabi, Kartoffeln und anderes saisonales Gemüse, das in der Umgebung angebaut wird. Den ganzen Vormittag nimmt sich Rackete Zeit, um Eindrücke zu gewinnen. Sie stellt Fragen, macht sich Notizen.
"Dieser Betrieb ist für uns natürlich besonders interessant", sagt Rackete zu watson. Interessant deshalb, weil die Genossenschaft so gut es geht klimafreundliche, nachhaltige und sozialgerechte Landwirtschaft zu vereinen versucht. Trotz schwieriger rechtlicher Rahmenbedingungen.
Sie will mehr wissen über die Konzepte der Landwirt:innen und Gemüsebäuer:innen in Deutschland und der EU sowie deren Probleme. Denn im Europaparlament möchte sich die 34-Jährige für Umwelt- und Agrarpolitik sowie für Biodiversität engagieren.
Themen, die sie viel mehr antreiben als die Schifffahrt. Von der Arbeit auf Schiffen hat sie schon lange genug. Diese machte ihr "keinen Spaß mehr". Bei der NGO Sea-Watch half sie nur deshalb aus, weil zu jener Zeit dringend Kapitän:innen gesucht wurden.
Im Endeffekt war Racketes Engagement im Mittelmeer ein kleiner Teil ihres Lebens. Vielmehr arbeitete sie auf Forschungsschiffen, insbesondere für die deutsche und auch die britische Polarforschung. Sie war schockiert davon, wie wenig Eis es auf dem Arktischen Ozean noch gibt.
Ihre Beobachtungen in der Forschung: Der Frühling kommt früher, die Meere erwärmen sich, das Eisvorkommen geht massiv zurück, die Biodiversität nimmt drastisch ab, und: "Wir befinden uns mitten im sechsten Massenaussterben der Arten auf der Erde".
Alles Erkenntnisse, die nicht neu sind.
Das ist einer der Gründe, warum sie nicht mehr nur Aktivistin, sondern auch Politikerin sein will. "Die Forschung ist an sich natürlich total sinnvoll, aber es gibt dort keinen politischen Hebel", sagt sie zu watson. Rackete habe viel mit Wissenschaftler:innen geredet. Diese machten klar, "dass sie die Erhitzung der Ozeane, des Polarmeers und des abschmelzenden Meereises seit Jahrzehnten messen und die Ergebnisse natürlich veröffentlichen". Aber: "Die Politik macht damit einfach nichts."
Rackete wolle da ansetzen, wo es hakt: bei der politischen und gesellschaftlichen Veränderung.
Diese sollte, wenn es nach ihr ginge, drastisch sein. In ihrem Weltbild müsste der Kapitalismus weg, die Emissionen drastisch reduziert werden. Dass vor allem Ersteres in naher Zukunft unwahrscheinlich ist, ist Rackete klar. Also macht sie, was ihrer Meinung nach nötig ist: "Sehr viel Öffentlichkeitsarbeit zu kritischen Themen."
Der Rechtsruck ist aber aktuell eines der Hauptargumente für sie, im EU-Parlament mitzumischen. "Weil das Erstarken der Rechtsextremen nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa massiv ist."
Doch warum Agrarpolitik? "Die industrielle Landwirtschaft ist der größte Hauptfaktor für den Verlust der Artenvielfalt", sagt sie. Die EU-Agrarförderung sieht die 34-Jährige in diesem Zusammenhang kritisch. Sie sorge dafür, dass Landwirtschaftsbetriebe größer und industrieller werden.
Das Problem: Betriebe erhalten etwa Subventionen nach Fläche, die aber nicht abhängig davon sind, wie umweltfreundlich diese genutzt wird. Die finanziell erfolgreichsten Landwirtschaftsbetriebe sind also diejenigen, die am effizientesten arbeiten, ohne auf die Umwelt zu achten.
Das führt zu fehlenden Habitaten für Wildtiere, massivem Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln sowie Umweltverschmutzung. Kleinbetriebe können sich nur schwer halten. Dazu sagt sie:
Insbesondere mit den Nutztierbeständen müsse man runter. Ein guter Hebel wäre hier nach Meinung Racketes, die EU-Agrarsubventionen umzustellen und diese nach sozialen und ökologischen Kriterien zu vergeben.
Bei Gesprächen mit Menschen aus der Landwirtschaft notiert sie, was diese sich wünschen. Mit den Kola-Mitarbeitenden sitzt sie nach der Führung auf dem Genossenschaftsgelände in ihrer unprätentiösen, braunen Sweat-Jacke am Tisch, hört zu. Viele Ideen kommen auf den Tisch: die Mehrwertsteuer für Obst und Gemüse abzuschaffen, zum Beispiel. Naturschutz solle sich für Landwirt:innen bezahlt machen, der Handel solle Produkte nicht mehr unter die Erzeugerpreise drücken können.
Ambitionierte Ziele, die längst überfällig seien.
Beim anschließenden gemeinsamen Mittagessen macht Rackete auch klar, dass es ein schwieriger Kampf wird. Sie habe "lange überlegt", ob sie wirklich ins EU-Parlament will, habe viele Gespräche geführt. Die meisten mit Erfahrung in der EU-Politik hätten ihr von diesem Schritt abgeraten. Denn Lobbyismus und Korruption seien in Brüssel ein großes Problem. Im Dezember 2023 waren rund 12.467 Verbände, Unternehmen und Organisationen im europäischen Transparenzregister gelistet.
So werden eigentlich gute Gesetze, etwa für das Klima, blockiert. Nicht nur wegen Lobbyismus und rechten Strömungen. Auch einzelne Länder haben die Möglichkeit, sich dagegenzustellen. "Wenn ein vernünftiges Gesetz auf europäischer Ebene von einer kleinen Partei in einem Land blockiert werden kann, ist das ein Demokratie-Problem für die EU", findet sie. Letztlich müsse man der EU gegenüber kritisch sein und "verstehen, dass sie aus einem wirtschaftlichen Zusammenschluss hervorgegangen ist".
Das schmälert auch den Einfluss von EU-Parlamentarier:innen.
Der Einfluss von Brüssel auf die Gesetzgebung der einzelnen Staaten ist extrem hoch, die Berichterstattung vergleichsweise gering, wie sie bemängelt. Deshalb will Rackete aufklären, Transparenz schaffen, so gut es eben geht. Damit sich die EU-Bürger:innen wehren und protestieren können.
Die Tatsache, dass es keine Gesetzgebungsinitiative vom Europaparlament aus gibt, findet sie kritisch. Schließlich sei es das einzige direkt gewählte Organ auf EU-Ebene. Das schmälert den Einfluss einzelner EU-Parlamentspolitiker:innen. Auch von Rackete. "Die EU ist ein knallhartes Wirtschaftsprojekt", stellt sie klar. Dem will sie, zumindest etwas, entgegenwirken.