Ukrainische Soldaten feuern mit einem 120-mm-Mörser auf russische Stellungen an der Frontlinie in der Nähe von Bachmut.Bild: AP / Evgeniy Maloletka
Russland
Zum Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine wird eine Großoffensive erwartet. Experten sind skeptisch. Sie gehen von kleineren Angriffen aus, die schon begonnen haben.
Peter Blunschi / watson.ch
Wolodymyr Selenskyj hat die Ukraine verlassen, zum zweiten Mal seit Beginn des russischen Einmarschs vor bald einem Jahr. Nach seiner Reise nach Washington kurz vor Weihnachten war er in Europa unterwegs. In London, Paris und am EU-Gipfel in Brüssel bat der ukrainische Präsident um weitere Waffenlieferungen, besonders von Kampfjets.
Auf das aktuelle Kriegsgeschehen werden sie keinen Einfluss mehr haben. Dieses verläuft für die Ukraine schwierig, wie Selenskyj in den letzten Tagen einräumen musste. An mehreren Abschnitten der Front haben die russischen Invasoren den Druck erhöht. Beobachter erwarteten schon lange eine Großoffensive im Hinblick auf den Jahrestag am 24. Februar.
Aus der Ferne lässt sich die Lage nur schwer beurteilen. Es gibt jedoch Hinweise, dass die russische Winter-Offensive bereits begonnen hat. Sie findet nicht mit einem großen Knall statt, sondern durch eine Verstärkung der Angriffe mit den im letzten Herbst mobilisierten Soldaten, die nun an die Front verlegt und ins Gefecht geschickt werden.
"Zu wenig Ausrüstung"
Andererseits gehen renommierte Experten nicht davon aus, dass es zu einer Offensive in größerem Umfang kommen wird. Zu ihnen gehört der gebürtige Ukrainer Michael Kofman, einer der besten Kenner des russischen Militärs. "Russland konzentriert sich auf den Donbass, sein Offensivpotenzial ist begrenzt", sagte der US-Forscher im Interview mit dem "Spiegel".
Das Problem der Invasoren bringt er auf einen simplen Nenner: "Zu wenig Ausrüstung, zu wenig Artilleriemunition." Dieses Manko lasse sich auch durch eine große Zahl an neuen Soldaten – die Rede ist von bis zu einer halben Million – nicht kompensieren, von denen viele "nie an der Waffe ausgebildet wurden", meinte Kofman gegenüber dem "Spiegel".
Ziel: Eroberung des Donbass
Obwohl die russischen Rüstungsfabriken angeblich auf Hochtouren laufen, scheint der Armee das Material auszugehen. Das beginnt mit den Präzisionsraketen. Seit Anfang Jahr sind die Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur selten geworden. Doch selbst bei den Artilleriegranaten läuft der Nachschub an die Front anscheinend schleppend.
In einem Twitter-Thread bekräftigte Michael Kofman deshalb seine Einschätzung, wonach sich die russischen Angriffe auf die vollständige Eroberung des Donbass beschränken dürften. Dies deckt sich mit Erkenntnissen des ukrainischen Geheimdiensts, wonach Kriegsherr Wladimir Putin seinen Generälen befohlen habe, den Donbass bis März einzunehmen.
Angriffe in der Region Luhansk
Gegenüber Behauptungen, Russland könne auch große Städte wie Charkiw oder die Hauptstadt Kiew ins Visier nehmen, zeigte sich Kofman skeptisch. Ein erneuter Vorstoß von Belarus Richtung Kiew mache "wenig Sinn". Dafür habe Russland zu wenig Truppen im Nachbarland stationiert. Und die Ukrainer haben die Grenzbefestigungen verstärkt.
Im Donbass aber läuft die russische Offensive. Serhij Hajdaj, der ukrainische Gouverneur der Verwaltungsregion Luhansk, schrieb am Donnerstag auf Twitter von einer "maximalen Eskalation" in Richtung Kreminna: "Die Besatzer versuchen, unsere Verteidigungslinien zu durchbrechen." Von Kreminna aus könnten die Russen auf die Stadt Kramatorsk vorstoßen.
Beide haben Probleme mit Material
Noch aber hält das ukrainische Abwehrdispositiv, wie Hajdaj der Nachrichtenagentur Reuters erklärte. Die Angreifer hätten "keinen bedeutenden Erfolg" errungen. Allerdings bräuchten die Ukrainer schweres Gerät und Artilleriemunition, betonte der Gouverneur: "Dann können wir uns nicht nur verteidigen, sondern eine starke Gegenoffensive lancieren."
Nicht nur die Russen haben ein Problem mit dem fehlenden Nachschub, sondern auch die Ukrainer. Das zeigt sich bei der Verteidigung der Stadt Bachmut, um die seit Monaten erbittert gekämpft wird. In den letzten Tagen haben sich die Kämpfe nochmals intensiviert, unter hohen Verlusten auf beiden Seiten, wie die "Washington Post" berichtete.
Wuhledar wird zum "Fleischwolf"
Dabei sei den Ukrainern aufgefallen, dass der Artilleriebeschuss abgenommen habe, womöglich wegen fehlendem Nachschub, und die Russen ihre Kämpfer fast ungeschützt in die Schlacht werfen würden. "Sie haben nicht mehr viele Mörser und Granaten, aber sie haben unerschöpfliche menschliche Ressourcen", sagte eine ukrainische Armeesprecherin.
Ob eine solche Taktik langfristig Erfolg haben wird, darf man bezweifeln. Das zeigt sich in der Kleinstadt Wuhledar im Süden der Region Donezk, um die seit mehreren Tagen gekämpft wird. Wuhledar sei "zu einem Fleischwolf für die russische Armee geworden, mit enormen Auswirkungen auf die größere Offensive", schrieb das Magazin "Forbes".
Russische Abwärtsspirale
So habe es am Montag einen Angriffsversuch zweier mechanisierter Bataillone mit einigen Dutzend T-80-Panzern und Schützenpanzern gegeben. Er habe mit schweren Verlusten und einem Rückzug geendet. Rund 30 zerstörte Kampf- und Schützenpanzer blieben zurück. Fotos und Videos sollen das zerbombte Gerät und die Leichen toter Soldaten zeigen.
Für den Militärexperten von "Forbes" befindet sich die russische Armee in einer eigentlichen Abwärtsspirale: "Inkompetenz führt zu noch größeren Verlusten, die die Armee zwingen, mehr Rekruten auszuheben, sie noch schlechter auszubilden und noch schneller an die Front zu schicken." Wo eine motivierte und abgehärtete ukrainische Armee wartet.
Ukraine weiter im Vorteil
"Wenn das alles ist, was die Russen nach einem Jahr umfassender Kämpfe in der Ukraine zustande bringen, könnte die hochgespielte Winter-Offensive kostspielig verlaufen – und kurz", so das Fazit von "Forbes". Selbst das angebliche Minimalziel, die Eroberung des gesamten Donbass, könnte unter diesen Umständen unerreichbar sein.
Für Michael Kofman befindet sich die Ukraine trotz personeller und materieller Engpässe mit Blick auf den weiteren Jahresverlauf weiterhin im Vorteil, auch dank der Unterstützung durch das Ausland. Entscheidend sei der Nachschub, damit sie 2023 selber in die Offensive gehen könne. Selenskyjs Kampfflugzeuge sind dabei vermutlich nicht der entscheidende Faktor.
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