Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 hat sich der Kriegsverlauf für Präsident Wladimir Putin als wenig erfreulich erwiesen. Eigentlich hatte er geplant, die Ukraine schnell zu besetzen. Mittlerweile sind fast zwei Jahre vergangen, Moskau und Kiew befinden sich in einem schwierigen Stellungskrieg.
Die Verluste auf beiden Seiten sind beträchtlich, und trotzdem konnte Putin keinen bedeutenden Fortschritt erzielen. Diese Einschätzung teilt auch Igor Girkin, ein ehemaliger Oberst des russischen Geheimdienstes FSB und vehementer Kritiker Putins. Er schätzt die militärische Zukunft Russlands als schwierig ein.
Girkin wurde im Juli verhaftet. Denn er hatte es gewagt, öffentlich die Militärstrategie Russlands in der Ukraine zu kritisieren. Außerdem hatte der frühere Separatist Putin als "mittelmäßig" und "feige" bezeichnet und die Absicht verkündet, bei der Präsidentschaftswahl zu kandidieren.
Im Dezember bestätigte Putin seine Absicht, im März für eine fünfte Amtszeit als russischer Präsident zu kandidieren.
In seiner Gefängniszelle schrieb Girkin einen Brief, der laut "Newsweek" nun auf seinem persönlichen Telegram-Account erschien. Dabei äußerte der russische Nationalist seine pessimistische Prognose zu Russland im Ukraine-Krieg. Girkin prophezeit darin, dass sich die russische Invasion in der Ukraine "sehr schlecht" entwickele. Denn: Den Streitkräften fehlen nach seiner Einschätzung Soldaten. Die geplante "breit angelegte Offensive" im Frühjahr oder Sommer sei wegen der Probleme nicht mehr geplant.
Girkin begründet seine Einschätzung damit, dass Russland bis zu den "Wahlen" ganz sicher nicht im großen Stil mobilisieren werde. Bis dahin versuche Putin, die Lücken in den Reihen zu schließen sowie neue Einheiten durch Gefangene und Vertragssoldaten zu ersetzen. Die Folge laut Girkin:
Tatsächlich schließt Putin eine weitere Mobilmachung wie 2022 aus, wie er im Dezember bei seiner traditionellen Fragestunde für Bürger und Journalisten zum Jahresende angekündigt hatte.
Die russischen Streitkräfte haben es bisher nicht geschafft, die Ukraine zu unterwerfen und die besetzten Gebiete vor Angriffen der ukrainischen Armee zu schützen. Seit Langem ist bekannt, dass Russland viele schlecht ausgebildete Soldaten an die Ukraine-Front schickt.
Eine desorganisierte Armee, taktische Fehler und Ausrüstungsmängel haben zu einer hohen Anzahl von Todesfällen auf russischer Seite geführt.
Obwohl die erwartete Sommer-Gegenoffensive der Ukraine im Jahr 2023 nicht die erhofften territorialen Gewinne brachte, entwickelten sich Russlands Bemühungen um die Stadt Avdiivka zu einem blutigen Patt ohne Fortschritte. Die Verluste zwangen Moskau zu mehreren Mobilisierungen von wehrfähigen Männern, was wiederum im Inland zu Dissens über den Krieg führte.
Laut aktuellen Zahlen der ukrainischen Streitkräfte belaufen sich die russischen Verluste seit Kriegsbeginn auf fast 369.000. Durchgesickerte US-Geheimdienstinformationen von Anfang des Monats deuteten darauf hin, dass seit Kriegsbeginn 315.000 russische Soldaten getötet oder verwundet wurden.
"Unterdessen werden die Ukrainer unter diesen Bedingungen wieder an Stärke gewinnen, und ich persönlich habe keinen Zweifel daran, dass sie es 'erneut versuchen' werden", fügte Girkin hinzu. "Sie wissen immer noch, wie man dazulernt, während wir dieselben Idioten in der Führung haben", lautet sein vernichtendes Urteil.
Girkin, ehemaliger FSB-Offizier, erlangte Bekanntheit durch seine Beteiligung an der Annexion der Krim von der Ukraine im Jahr 2014. Im selben Jahr wurde er in Abwesenheit vom Haager Gerichtshof zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er in den Abschuss eines Passagierflugzeugs der Malaysian Airlines über der Ukraine verwickelt war, bei dem 298 Menschen starben.