Ein Feuerwehrmann löscht in Kiew den Brand einer Gasleitung, die durch einen russischen Raketenangriff beschädigt wurde.Bild: AP / Evgeniy Maloletka
Russland
Luftalarm statt Tanzmusik, tödliche Kampfdrohnen statt buntes Feuerwerk – in der Silvesternacht hielten russische Luftangriffe die Ukraine in Atem. Russland schickte mehrere Kampfflugzeuge und dutzende Kampfdrohnen ins Nachbarland.
Seither intensivieren russische Truppen die Angriffe quer durch die Ukraine. Ziel: Die ukrainische Infrastruktur und Industrie während der kalten Wintermonate lahmlegen und die ukrainische Bevölkerung zermürben.
Ein Freiwilliger räumt die Trümmer eines Wohnhauses weg.Bild: AP / Evgeniy Maloletka
"Die Kriegsmüdigkeit soll steigen, damit Kiew sich auf Verhandlungen nach russischen Konditionen einlässt", sagt Konfliktbeobachter Nikita Gerasimov von der Freien Universität Berlin auf watson-Anfrage. Doch der Plan Russlands geht offensichtlich nicht auf.
Russland will den Kampfgeist der Ukraine mit Bomben brechen
Laut Gerasimov zeigte bereits der vergangene Winter: Die ukrainische Bevölkerung und Regierung sind motiviert und bereit, diese Zermürbung zu ertragen, um weiterzukämpfen.
In diesem Winter sei Russland bisher noch weniger erfolgreich darin, die ukrainische zivile Infrastruktur zu beschädigen, sagt Politikwissenschaftler und Osteuropa-Experte Andreas Umland auf watson-Anfrage. Der Analyst des Stockholm Centre for Eastern European Studies führt aus:
"Während zum Beispiel Kiew damals kurz vor der Evakuierung stand, die nur mit viel Improvisation verhindert wurde, gab es in diesem Winter in der Hauptstadt keine größeren Lücken bei der Strom- und Wasserversorgung sowie Fernheizung der Stadt. Trotz großer Terrorangriffe aus der Luft auch in diesem Winter war der Effekt bisher deutlich geringer."
Die Ukraine hält den Angriffen stand. Doch wie lange kann sie das noch durchhalten? Das Jahr ist noch jung und bereits jetzt führt Russland massive Luftangriffe durch.
Zerstörung, Angst, Kälte: Der Kriegsalltag vieler Ukrainer:innen in den Wintermonaten.Bild: Ukrinform
Bereits seit Anfang Oktober 2022 führt der Kreml mit Raketen und Kampfdrohnen massive Angriffswellen gegen die zivile Infrastruktur der Ukraine aus. Die Strom- und Wasserwirtschaft soll geschwächt werden. Russland habe bei seinen Angriffen "wichtige Infrastrukturen" sowie Industrie- und Militärgebäude ins Visier genommen, erklärt das ukrainische Militär.
Laut dem Konfliktbeobachter Gerasimov steckt noch ein weiteres Kalkül hinter den Angriffen auf die ukrainische Infrastruktur.
Russlands Drohnen- und Raketenangriffe werden zunehmen
"Militärisch nutzt Moskau diese außerdem, damit Kiew seine westlichen Raketenabwehrsysteme in den Städten konzentriert und sie somit nicht massenhaft an der Front gegen die russische Luftwaffe einsetzen kann", führt er aus. Ein Ende der russischen Drohnen- und Raketenangriffe ist ihm zufolge nicht in Sicht. Russland bediene sich bereits an einer ganzen Palette Raketen und Drohnen: sowohl aus eigener Produktion als auch iranische Shaheed-Drohnen.
Auch aus Nordkorea kommt wohl Unterstützung.
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Denn russische Truppen sollen nun auch nordkoreanische ballistische Kurzstreckenraketen erhalten und bereits, vermutlich zunächst als Testlauf, vereinzelt eingesetzt haben, meint Gerasimov. "In wenigen Monaten könnte Moskau auch in Besitz iranischer Raketen kommen, was vermutlich zu einer weiteren Intensivierung der Angriffe führen könnte", warnt er.
USA könnten Ukraine in missliche Lage bringen
Gleichzeitig signalisiere Washington, dass die Unterstützung der Ukraine im Jahr 2024 sinken könnte und insbesondere die weitere Versorgung mit "Patriot"-Abfangraketen fraglich sei.
"Sollten die amerikanischen Lieferungen tatsächlich abnehmen, wird die Schwere der russischen Angriffe zunehmen, da die eh schon überladene ukrainische Raketenabwehr an ihre absolute Belastungsgrenze kommen wird", prognostiziert Gerasimov.
Gerade in den kalten Wintermonaten spitzen sich solche Angriffe eben auf Kraftwerke, Umspannwerke und Wasserleitungen zu. "Da relevante russische Erfolge an der Front ausbleiben, nutzt Russland seine Überlegenheit in der Luft, um die Ukraine mittels systematischen Terrors gegen die Zivilbevölkerung in die Knie zu zwingen", sagt Umland. Auch sollen die Angriffe wohl ein Signal an den Westen sein. Doch für Umland stellt sich die Frage nach der strategischen Rationalität des Vorgehens.
Stromausfälle gehören zum Alltag: Ein Rentner zündet Kerzen in seinem Haus in Kupjansk an.Bild: AP / Evgeniy Maloletka
"Es wurden zwar etliche Zivilist:innen – darunter auch dutzende Kinder – getötet und verletzt. Doch wird der Großteil der Flugkörper abgefangen, und nachhaltige Beschädigung der zivilen Infrastruktur gibt es bisher nicht", führt der Politikwissenschaftler aus. Auf ihn wirkt die russische Führung zunehmend "erratisch". Sprich, unvorhersehbar.
"Die Angriffe wiederholen den Terror vom vergangenen Jahr und verhärten eher die ukrainische Position."
Politikwissenschaftler Andreas Umland
Doch der Ukraine sei das Szenario vom vergangenen Jahr bekannt, führt er aus. Die ukrainische Armee sowie der relevante zivile Dienst sind ihm zufolge auf die Angriffe und etwaige Zerstörungen eingestellt. "Zumindest die Hauptstadt Kiew ist in diesem Winter weit besser vorbereitet als im letzten." Das größte Problem seien grenz- und frontnahe Ortschaften von Großstädten wie Charkiw bis zu kleinen Dörfern.
Ein Mann trägt seine Habseligkeiten aus einem durch russische Raketen beschädigten Wohnhaus in Charkiw.Bild: AP / Andrii Marienko
Laut Umland fehlt es dort am notwendigen breiten Spektrum an Flugabwehrgeräten und Langstreckenwaffen zur Bekämpfung der Abschussplattformen der russischen Flugkörper. So geriet jüngst auch Krywyj Rih, die Heimatstadt von Präsident Wolodymyr Selenskyj, unter Beschuss. Der stellvertretende Leiter des Präsidialamts, Oleksij Kuleba, verurteilt diesen Angriff, bei dem ein Einkaufszentrum und Wohnhäuser getroffen wurden. Die Lage vor Ort sei wegen des Wetters "kompliziert", es gebe "zahlreiche Stromausfälle".
"Die Angriffe wiederholen den Terror vom vergangenen Jahr und verhärten eher die ukrainische Position, als dass sie sie aufweichen", meint Umland. Insofern sei die russische strategische Kalkulation dahinter unklar.
Doch auch umgekehrt intensivierte zuletzt auch die Ukraine ihre Angriffe auf das russische Territorium, darunter mit teils schweren Bombardements der russischen Stadt Belgorod.
Auch die Ukraine greift auf russischem Gebiet an
"Ob diese Angriffe zunehmen werden, hängt vor allem davon ab, ob der Westen weitere moderne Marschflugkörper und Raketen liefert", sagt Gerasimov. Zwar besitze Russland selbst eine entwickelte Raketenabwehr, jedoch ist diese allein schon wegen der Landesausmaße nicht in der Lage, das ganze Territorium abzudecken, sodass schwere ukrainische Treffer immer wieder durchdringen werden.
Ihm zufolge sieht die ukrainische Regierung keine "Rote Linien" für sich bezüglich weiterer Raketenangriffe auf russisches Territorium.
"Tatsächlich ist zu erwarten, dass die Ukraine auch demnächst bei unbemannten Flugkörpern ihre Produktionskapazität erhöht", meint Umland. Ähnlich wie bei der Produktion schwimmender Kampfdrohnen für Angriffe gegen russische Kriegsschiffe im Schwarzen Meer. Das Land werde solche Geräte aus Eigenproduktion immer stärker dazu nutzen, militärische Ziele, wie Flughäfen oder Munitionslager im russischen Hinterland anzugreifen.