Wladimir Putin will ukrainische Kinder unter staatliche Kontrolle bringen.Bild: Pool Sputnik Kremlin via AP / Mikhail Metzel
International
12.03.2024, 17:1112.03.2024, 17:33
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine wurden zahlreiche ukrainische Kinder und Jugendliche nach Russland verschleppt. Dies gilt als Kriegsverbrechen. Die genaue Zahl entführter Minderjähriger ist unklar, laut Angaben aus Kiew handelt es sich möglicherweise um fast 20.000. Unter anderem wegen dieses Vorgehens hat der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag bereits Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin erlassen.
Inmitten des anhaltenden Konflikts kommt das Ausmaß einer verstörenden Praxis ans Tageslicht: die Umerziehung entführter ukrainischer Kinder und Jugendlicher in Russland. Die russischen Behörden haben ein ausgefeiltes System entwickelt: Mit dem Ziel, dass sie ihre ukrainische Identität aufgeben.
Mit dem Krieg endete die unbeschwerte Kindheit für viele ukrainische Kinder und Jugendliche.Bild: dpa / kyodo
Putin-Regime schickte Wörterbücher mit verbotenen Ausdrücken an Schulen
"Meduza"-Sonderkorrespondentin Liliya Yapparova untersuchte Tausende von Dokumenten und sprach mit Mitarbeitenden des Bildungsministeriums, um Einblicke in dieses System zu gewinnen. Dabei stieß die Journalistin des unabhängigen Exilmediums auf ein beunruhigendes Vorgehen.
So wurde etwa bereits 2022 ein Wörterbuch mit verbotenen Ausdrücken vom russischen Bildungsministerium entwickelt: Es informiert das russische Lehrpersonal darüber, welche Wörter und Ausdrücke von ukrainischen Kindern als "Anzeichen von Extremismus aus nationalistischen Gründen" betrachtet werden können.
Laut dem russischen Bildungsministerium könnten bereits "spezifischer Slang" oder Diskussionen über politische Themen als Hinweise auf eine "destruktive Ideologie" angesehen werden. Ukrainische Kinder sollen demnach auf der Grundlage russischer Werte und Traditionen "umerzogen" werden, um eine russische Identität anzunehmen.
Kinder künftige Terroristen? Russland will frühzeitig einschreiten
Die russischen Behörden glauben, dass sie damit "destruktive Manifestationen" bei diesen Kindern bereits im Frühstadium verhindern können. Ein speziell entwickeltes Schulungshandbuch namens "Begleitung von Jugendlichen aus Kampfgebieten" beschreibt mögliche Verhaltensweisen, die als alarmierend angesehen werden. Darunter "Protest", "Aggressivität" und "Misstrauen gegenüber Erwachsenen". Zudem heißt es darin über die Kinder: Sie "haben Schwierigkeiten, Situationen, wie sie entstehen, mit den Augen eines neutralen Beobachters zu sehen."
Lehrkräfte müssen laut Handbuch einem solchen Kind helfen, das nach Angaben der russischen Abteilung über weniger "Wissen" und "soziale Fähigkeiten" verfügt, die "standardmäßig bei Kindern im russischen Raum vorhanden sind".
Ukrainische Kinder sind potenzielle Terroristen und sollen russisch werden
Das Ziel: Ukrainische Kinder "auf der Grundlage spiritueller und moralischer Werte, historischer und nationalkultureller Traditionen der Russischen Föderation" bis zum Abschluss "umzuerziehen". Jugendliche müssen demnach "eine russische Identität entwickeln", schreibt "Meduza" mit Berufung auf die Dokumente.
Russland, St. Petersburg: Kinder fahren auf einem Modell eines historischen Panzers.Bild: AP / Dmitri Lovetsky
Eine Quelle aus der zuständigen Abteilung behauptet anonym, dass dem Ministerium die "Integration" ukrainischer Kinder vor allem aus Angst am Herzen liegt. Kinder seien in den Augen des Ministeriums potenzielle künftige Terroristen. Es herrsche die Sorge, dass diese Kinder möglicherweise Widerstand gegen die russische Herrschaft leisten könnten.
Eine weitere anonyme Quelle einer Bundesstiftung beschrieb eine mitunter explosive Situation in den Schulklassen: "Unseren Schulkindern wird auch eingeredet, dass es in der Ukraine Faschisten gibt – und dann haben sie plötzlich einen echten 'Ukrofaschisten' in ihre Klasse gebracht."
Schulkinder in Russland: Beschwerden über psychologische Belastungen
Laut "Meduza" berichten Psycholog:innen davon, dass ukrainische Schulkinder unter Angstzuständen, "Trennung von der Familie", Panik, Benommenheit und "Selbstmordtendenzen" leiden. Sie sprechen Berichten zufolge über ihre "Angst vor lauten Geräuschen" und "Fluglärm", "Trauer", Depression und "Trennungsangst". Kinder teilen auch ihre "Befürchtungen", dass sie "wegen ihres ausgeprägten Dialekts stigmatisiert werden" und "Schwierigkeit haben, schnell auf Russisch umzusteigen".
"Meduza" entdeckte zudem Dokumente der zuständigen Ministeriumsabteilung, die auf ein massives Adoptionsprogramm für ukrainische Kinder hinweisen. Die zuständige Verantwortliche, Maria Lvova-Belowa, dementiert dies. Sie besteht darauf, dass russische Familien kein Kind aus "neuen Regionen" adoptieren können. "Nur Vormundschaft oder eine Pflegefamilie" sei möglich – damit das Kind zu seiner Familie zurückgebracht werden könne.
Trotz offizieller Gegenbehauptungen gibt es laut "Meduza" klare Beweise für Massenadoptionen. Diese Kinder werden demnach oft gegen den Willen ihrer leiblichen Eltern adoptiert und in russische Familien gebracht.
Russland: Kinder und Jugendliche aus der Ukraine eingehend überwacht
Das Bildungsministerium überwache zudem das Schicksal adoptierter ukrainischer Kinder und Jugendlicher. Hierfür gebe es unter anderem etwa Fragebögen als Kontrollmechanismus.
Ein Dekret zur Gründung des Bundesjugendzentrums (FC RPSP) hat Putin bereits nach Beginn der Invasion an das Bildungsministerium geschickt. Es orchestriert jetzt maßgeblich die ideologische Arbeit mit Jugendlichen außerhalb der Schulen. Es koordiniert zum Beispiel die "Implementierung von Integrationsprogrammen für Kinder aus neuen Regionen". Dafür wurde etwa ein Netzwerk von "Jugendräumen" speziell für ukrainische Kinder ins Leben gerufen, in denen "patriotische Seminare" und Militärsportspiele stattfinden. Mit dem Ziel, das Bild eines "freundlichen Russen" zu prägen.
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Brisant: Für alle Teenager, die im Bereich "Prävention" unter die Überwachung fallen, gibt es der Recherche zufolge eigene Profile. "Meduza" konnte Dutzende von ihnen sehen und fand heraus: Sie enthalten nicht nur das Foto, die Adresse und die Telefonnummer eines verschleppten Kindes. Auch eine detaillierte Analyse der sozialen Netzwerke – bis hin zur Zählung von Kommentaren, Likes und Reposts – wird erstellt. So werden die Minderjährigen als "Destruktivitätskoeffizient" oder "Oppositionalitätskoeffizient" bewertet.
"Meduza" konnte zudem Einsicht in Unterlagen nehmen, in denen die Vorstellung einer neu zu schaffenden föderalen Struktur zur Unterstützung von Kindern in schwierigen Lebenslagen wie etwa Waisen diskutiert wurde. Die neu entstehende Abteilung wird von einigen Informanten als "Waisenministerium" bezeichnet. Es soll dazu dienen, ukrainische Kinder unter den Fittichen der konservativen und putintreuen Anna Kuznetsowa zu behalten. Dieses Vorhaben werde auch vom Präsidenten unterstützt, wie Quellen aus dem Kreml-Umfeld betonen.