Wegen fehlender Munition ist die Situation an der Front für die Ukraine derzeit kritisch.Bild: imago images / Madeleine Kelly
Analyse
07.03.2024, 18:5607.03.2024, 19:38
Seit mehr als zwei Jahren wehrt die Ukraine bereits den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands ab. Anfangs hätten das einige Expert:innen nicht für möglich gehalten. Es hieß, das Land würde in wenigen Tagen fallen.
Auch der russische Präsident Wladimir Putin erhoffte sich eine rasche Einnahme Kiews. Aber die Ukraine war vorbereitet. Vor allem ist es der starke Wille der Menschen, der die russische Invasion abwehrt.
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Allerdings benötigt die Ukraine dazu langfristig die Unterstützung aus dem Westen. Diese kommt zunehmend ins Wanken. In den USA stellen sich die Republikaner bei der Ukraine-Hilfe quer. Im November könnte Donald Trump erneut zum Präsidenten gewählt werden. Der 77-Jährige hält nicht viel von der Nato und könnte die Ukraine gänzlich fallen lassen.
Wladimir Putin und Donald Trump könnten einen gefährlichen Deal für die Ukraine aushandeln.Bild: AP / Evan Vucci
Ein Szenario, das Europa aufwecken sollte. Doch hier herrscht Uneinigkeit und Streit darüber, wie sehr man der Ukraine helfen sollte, ohne selbst in den Krieg hineingezogen zu werden.
Zuletzt hörte der Kreml deutsche Offiziere beim Gespräch über Taurus-Marschflugkörper ab. Expert:innen warnen, Russland sehe Deutschland und Europa längst als Kriegspartei. Dennoch windet sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), die effektiven Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine zu liefern.
Allgemein gehen der Ukraine die Munition und die Waffen aus, wodurch sich derzeit ein düsteres Bild an der Front abzeichnet. "Das Momentum liegt derzeit auf russischer Seite, weil die ukrainischen Truppen mit Engpässen sowohl beim Personal als auch bei Waffen zu kämpfen haben", warnt Konfliktbeobachter Nikita Gerasimov von der Freien Universität Berlin.
Nach Awdijiwka drohen weitere Eroberungen von Russland
Ihm zufolge leidet Kiew unter einem massiven Artilleriehunger, den der Westen bislang nicht in der Lage ist, zu kompensieren. Personell seien ukrainische Truppen ebenfalls erschöpft. Auf watson-Anfrage führt Gerasimov aus:
"Manche Einheiten sind nun seit über zwei Jahren ununterbrochen an der Front, eine dringende Aufstockung und Rotation wären notwendig, dafür scheut Kiew aber eine weitere Mobilmachung, da sie bei der eh ermüdeten ukrainischen Bevölkerung zu noch massiveren sozialen Spannungen führen könnte."
Erschöpfte Soldat:innen und fehlende Munition zeigen ihre Wirkung an der Front. So musste die Ukraine etwa die monatelang umkämpfte Stadt Awdijiwka aufgeben.
Militärexperte Gustav Gressel erklärt dazu gegenüber dem Bayerischen Rundfunk:
"Ohne Artilleriemunition kann die Ukraine nur im begrenzten Ausmaß Sperrfeuer auf angreifende russische Verbände schießen, weil sie einfach wenig Munition hat, und weil sie auch immer nicht weiß, ob kleinere Angriffe wirklich der Angriff sind, den sie jetzt bekämpfen muss oder am nächsten Tag dann ein größerer Angriff erfolgt."
Laut Gerasimov ist die Offensivinitiative derzeit an fast allen Frontabschnitten an die russischen Truppen übergegangen. Die große Hoffnung in die ukrainische Sommeroffensive ist vollends zerplatzt.
"Der ukrainische Generalstab steckt offenbar in einer Schockstarre, wie nun weiter zu verfahren sei", meint der Konfliktbeobachter. Die Absetzung von Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj verschärfe dies noch mehr.
Absetzung von General Saluschnyj sorgt für Verwirrung
Im Februar fällte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine große Entscheidung: Er setzte General Saluschnyj als Armeechef ab. Der 50 Jahre alte Karriereoffizier diente seit Juli 2021 als militärischer Oberkommandierender der ukrainischen Streitkräfte. Er galt als äußerst beliebt und angesehen unter den Soldat:innen.
Gerasimov zufolge nutzt Russland diese Verwirrung derzeit voll aus. Innerhalb weniger Wochen gingen russische Verbände in Gegenoffensiven an nahezu allen Frontabschnitten über. Der Experte gibt dazu einen näheren Einblick:
- Im Süden versuchen die Russen den Robotyne-Verbove-Bogen zurückzuholen,
- im Osten sind Awdijiwka sowie weitere Ortschaften westlich davon gefallen,
- weiter nördlich drücken russische Truppen westlich von Bachmut in Richtung Tschassiv Jar. Vermutlich werden die Russen ihre Offensivanstrengungen auf diesen Richtungen weiter ankurbeln.
Bereits im Februar sollen ukrainische Soldat:innen in Tschassiv Jar Gerasimov zufolge vor dem Fall der vorgelagerten Dörfer und einem baldigen Sturm der Stadt gewarnt haben. Scharfe Kritik ertönte gegenüber Kiew und Selenskyj: "Ihr werdet es nicht in Tagesnews sehen, nicht vom Präsidenten erzählt bekommen, aber der Feind rückt vor", zitiert Gerasimov die Stimmen vor Ort.
Im Februar veröffentlichte Gerasimov auf X den Vormarsch Russlands (rot) auf Tschassiv Jar (blauer Kreis).bild: screenshot x/ Nikita Gerasimov
Die wichtigsten Hotspots dürften laut Gerasimov demnach der Robotyne-Verbove-Bogen sowie Tschassiv Jar westlich von Bachmut bleiben.
Mit dem Blick nach vorn werde sich die ukrainische Armee in diesem Jahr auf die Defensive konzentrieren. Dafür nennt der Experte zwei Gründe: Um das russische Offensivmomentum mit möglichst wenigen Verlusten zu überdauern und gleichzeitig Kräfte im Hinterland zu akkumulieren.
Offensive der Ukraine ist wohl erst 2025 möglich – Kiew widerspricht
"Verschiedene ukrainische wie amerikanische Akteure sprechen davon, dass die nächste ukrainische Offensive bei den gegenwärtigen Bedingungen vermutlich erst 2025 realistisch sei", führt Gerasimov aus. Das sieht Oleksander Pawljuk, Oberbefehlshaber des ukrainischen Heeres, aber offenbar anders.
In einer TV-Sendung kündigt er laut ukrainischen Medien an, dass sich die Ukraine in diesem Jahr nicht nur gegen russische Angriffe verteidigen werde. Der Plan sei, auch selbst Gegenoffensiven durchzuführen. Man wollte die Frontlinie sichern, dem Gegner großen Schaden zufügen, eine Angriffsgruppe formieren und mit dieser dann zuschlagen, heißt es.
Ist die Ukraine 2024 zu Gegenoffensiven fähig? Die Meinungen darüber spalten sich. Bild: AP / Efrem Lukatsky
Ein Vorteil ist Pawljuk zufolge, dass Russland viele unerfahrene Soldaten an die Front schickt. Das wisse man aus abgehörten Gesprächen und die Verluste in russischen Reihen seien demnach sehr hoch. Wann und wo mögliche Gegenschläge starten könnten, verriet er nicht. Je weniger Informationen im Umlauf sind, desto besser, denkt sich wohl Präsident Selenskyj.
"Ich kann es offen zugeben – unsere Gegenoffensive lag schon auf dem Tisch im Kreml, noch ehe sie begann", sagte er Ende Februar und deutete dabei eine neue Offensive an. Aber: "Je weniger Leute davon wissen, desto schneller kommen der Erfolg und unerwartete Ergebnisse für die Russen", meinte er.
Ein zusätzlicher Faktor könnte Gerasimov zufolge die osteuropäische "Rasputiza" spielen.
Rasputiza
Rasputiza (auf Deutsch Wegelosigkeit) ist ein Wetterphänomen, das jedes Jahr im Frühjahr und im Herbst auftritt. Es ist die sogenannte Schlammperiode beziehungsweise Regenzeit, die etwa dazu führt, dass ganze Straßen unbefahrbar werden. Im Ukrainischen nennt man diese matschige und nasse Jahreszeit "Bezdorizhzhya". Der Boden weicht dann etwa in den südlichen Regionen der Ukraine so sehr auf, dass regelrechte Schlammwüsten entstehen.
Die "Rasputiza" bringt Gerasimov zufolge für beide Seiten der Front Probleme mit sich, ist aber tendenziell für die Offensivpartei immer von Nachteil. "Da die Russen derzeit die Offensive übernommen haben, wäre die 'Rasputiza' dieses Mal eher im Sinne der Ukrainer, da sie die russischen Truppen in ihrem Offensiv-Momentum lähmt", sagt er.
Boris Pistorius (SPD) ist seit Januar 2023 Bundesverteidigungsminister unter Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Er gilt als einer der beliebtesten Politiker Deutschlands.