Seit fast zwei Jahren kämpfen ukrainische Soldat:innen gegen die russischen Angreifer. Bild: AP / Mstyslav Chernov
International
04.12.2023, 11:3404.12.2023, 19:09
Seit 21 Monaten herrscht in der Ukraine bereits Krieg. 21 Monate, die nicht nur viele zivile Opfer gefordert haben, sondern auch zahlreiche Leben von Soldat:innen. Schon kurz nach dem Angriff der russischen Truppen am 24. Februar 2022 durften die ukrainischen, wehrfähigen Männer das Land nicht mehr verlassen. Angesichts des Krieges wollten aber ohnehin zahlreiche Menschen an die Front, um ihr Land gegen den russischen Aggressor zu verteidigen. Freiwillig.
Besonders zu Beginn war der Wille in der ukrainischen Gesellschaft hoch. Man wollte sich nicht einfach so geschlagen geben. Man wollte kämpfen. Doch die Motivation lässt angesichts der immer länger andauernden Gefechte nach. Zahlreichen ukrainischen Frauen reicht es nun, sie formieren eine Protestbewegung, fordern immer wieder die Heimkehr ihrer Partner:innen. Doch das Land steht vor einem Problem.
Proteste in der Ukraine: Frauen fordern Rückkehr der Soldaten
Einige haben erneut bei Schneefall und Minusgraden am Wochenende protestiert, diesmal in Saporischschja und Kiew. Während die Frauen demonstrieren, halten sie Schilder in die Höhe. "Mein Mann ist kein Gefangener" oder "Die Zeit der anderen ist gekommen" steht darauf. Die meisten Demonstrierenden sind Frauen und Mütter von Soldaten. Sie protestieren für die Demobilisierung.
Auch Hanna Bondar ist unter den Protestierenden. Ihr Mann ist seit Beginn des Krieges an der Front, nun sei er erschöpft, wie die Frau laut Tagesschau erzählt. Er wolle nicht mehr, obwohl er sich zu Beginn des Krieges freiwillig gemeldet hatte, um sein Land zu verteidigen. Damals wollten sie Russland nach dem brutalen Angriff die Stirn bieten.
Mit Erfolg. Die hohe Motivation in der ukrainischen Armee zahlte sich aus. Russland, das sich einen schnellen Sieg erhofft und erwartet hatte, sieht sich nun einem kräftezehrenden Stellungskrieg gegenüber.
Doch was die damalige Entscheidung, als Soldat:in zu kämpfen, bedeuten sollte, war vielen nicht klar. "Wir sind davon ausgegangen, dass er nach anderthalb Jahren die Möglichkeit auf Demobilisierung erhält, so wie es 2015 war", erklärt etwa Julia Pawlienko. Mittlerweile sei die Motivation am Boden, die Truppe durch den pausenlosen Einsatz zermürbt und ihr Mann wolle nur noch überleben.
Ukraine: Soldaten ziehen One-Way-Ticket in den Krieg
Die Probleme, mit denen die ukrainische Führung zu kämpfen hat, sind vielfältig. Denn so richtig kriegswillig sind die Soldat:innen im Land nicht mehr, nicht nur jene an der Front. So verstecken sich viele Männer vor den Einberufungsbehörden, andere kaufen sich frei oder verlassen heimlich das Land. Klar ist: So kann es nicht weitergehen.
Viele in der ukrainischen Armee wissen nicht, wann und ob sie wieder nach Hause zurückkehren können.Bild: ZUMA Press Wire / Madeleine Kelly
Der Veteran und Militärexperte Jewhen Dykyj glaubt, dass nur durch unpopuläre Entscheidungen eine Lösung gefunden werde. Er hält etwa einen zeitlich begrenzten Armeedienst für eine gute Idee. Höchstens zwei Jahre sollten es seiner Meinung nach sein. Aktuell ist die Situation fragwürdig. Es sei kein Ende für die Soldat:innen in Sicht. Wer sich freiwillig melde, ziehe derzeit also ein One-Way-Ticket in den Krieg.
Um Soldaten zu gewinnen: Ukraine muss neue Strategie fahren
Doch es gibt sie noch. Soldat:innen, die bereit sind, weiter für ihr Land zu kämpfen. Nach wie vor gebe es Mobilisierungspotenzial in der Ukraine.
Das zeigen etwa Einheiten, die ihre Soldat:innen selbst mobilisieren und erfolgreich dabei sind. Die Ukraine ist voll mit heroisch wirkenden Plakaten, die von diesen Einheiten stammen. Wer sich dort meldet, durchläuft dann eine Art Bewerbungsprozess für eine von ihnen ausgewählte Position. Dort ist der Andrang teils so hoch, dass nicht für alle etwas frei ist.
Deshalb will auch die ukrainische Regierung dieses Potenzial nutzen und zunehmend auf Rekrutierungsfirmen wie Lobby X setzen. "Bei uns können sich Menschen abhängig von ihrer Eignung freiwillig auf eine konkrete Stelle in einer konkreten Einheit bewerben", sagt Lobby X-Chef Wladyslaw Hresjew. Ein Vorteil gegenüber der staatlichen Ausbildung, die oft viel zu kurz sei und ohne Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten ablaufe.
Seit mehreren Monaten arbeitet der Verteidigungsausschuss des ukrainischen Parlaments an einem Gesetzentwurf, um das bestehende Problem anzugehen. Dies liegt daran, dass selbst Headhunting-Firmen Schwierigkeiten haben, die erforderlichen 100.000 Soldat:innen zu rekrutieren. Eine dringende Reform ist notwendig, sagt Jewhen Dykyj.
Besonders wichtig sei dabei die Festlegung einer zeitlichen Begrenzung für die Dienstzeit. Dykyj betont hierzu: "Durch dies erreichen wir die Lösung von zwei Problemen gleichzeitig: Das derjenigen, die derzeit im Einsatz sind, sowie das der neuen Anwärter. Ein, zwei oder sogar drei Jahre im Krieg zu dienen, unterscheidet sich erheblich von der Aussicht, mit einem One-Way-Ticket ins Ungewisse zu gehen." Gleichzeitig müssten die Schrauben angezogen werden, sagt er. Denn: "Kein Land der Welt hat jemals einen so großen Krieg nur mit Freiwilligen gewonnen."
Der Kriegswille der ukrainischen Soldat:innen hält sich nach 21 Monaten in Grenzen. Bild: BJV / Florian Bachmeier
Ukraine: Rückkehr von Soldaten mit Problemen verbunden
In der Bevölkerung wird eine Ausweitung der Einberufung wahrscheinlich nicht auf Begeisterung treffen. Die protestierenden Frauen auf dem Maidan erfahren viel Ablehnung, berichten sie.
"Die Menschen verstehen: Damit mein Mann nach Hause kommt, muss ihr Mann gehen", berichtet Julia Pawlienko. Und auch Hanna Bondar berichtet von negativen Kommentaren in den sozialen Netzwerken: "Sie schreiben: Dann geht ihr doch an die Front."
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Trotz dieser Herausforderungen lassen sich die Frauen nicht entmutigen. Sie betonen, dass es für die anhaltende Verteidigung der Ukraine notwendig sei, frische und gut ausgebildete Soldat:innen zu haben. Eine erschöpfte und unmotivierte Truppe wäre demnach nicht in der Lage, die russische Armee aufzuhalten.
Auch Frauen in Russland protestieren
Auch in Russland formiert sich Widerstand durch Frauen von Soldaten. Ein Video einer Rede, die am 19. November bei einer Kundgebung in der sibirischen Stadt Nowosibirsk gehalten wurde, zeigt die Forderungen.
Eine Frau sagt dort in ein Mikrofon: "Unsere Mobilisierten wurden zur besten Armee der Welt, aber das bedeutet nicht, dass diese Armee bis zum letzten Mann dort bleiben sollte". Wenn er etwas Heldenhaftes getan und aufrichtig Blut für sein Land vergossen habe, dann "wäre es vielleicht an der Zeit, zu seiner Familie zurückzukehren und Platz für jemand anderen zu machen. Aber das passiert nicht."
Plakat in Russland: Sowohl Moskau als auch Kiew haben Probleme, Soldaten zu finden. Bild: AP / Alexander Zemlianichenko
Die Rednerin ist Teil einer neuen Basisbewegung, die in den letzten Wochen in Russland an Fahrt gewonnen hat. Frauen in verschiedenen Städten versuchen, öffentliche Proteste zu veranstalten und fordern eine zeitliche Begrenzung der Einsätze. Offenbar wollen ukrainische wie russische Familien nur eines: endlich wieder zusammen sein.
Nach bald drei Jahren hat die Ukraine kaum noch Optionen, um den Krieg gegen Aggressor Russland militärisch zu gewinnen. Besiegt ist das geschundene Land deswegen aber nicht.
Am Dienstag ist es 1000 Tage her, seit der russische Autokrat Wladimir Putin den Befehl zur Invasion der Ukraine gab. Nun beginnt der dritte Kriegswinter. Er droht in der Ukraine "besonders kalt und dunkel zu werden", so der österreichische "Standard". Denn russische Luftschläge haben die Energieversorgung hart getroffen, zuletzt am Wochenende.