Im Stadion in Doha protestierten iranische Fußballfans gegen ihre Nationalmannschaft. Für sie repräsentiert das Team nicht das Land, sondern nur das Regime.Bild: www.imago-images.de / imago images
WM 2022
25.11.2022, 08:1025.11.2022, 09:21
Die Frage, wie man dieser umstrittenen Fußball-Weltmeisterschaft begegnen soll, stellt sich für viele – ob Fußballfan oder politisch interessierte Menschen. Für Iraner:innen stellt sich aufgrund der Unruhen gegen das konservative Regime die Frage aber anders: Wem drücke ich die Daumen? Der Mannschaft, die das Land repräsentieren soll, oder prinzipiell der gegnerischen Mannschaft?
Genau das stand auch beim ersten Gruppenspiel der iranischen Fußballnationalmannschaft an. Verbunden mit der Frage: Was werden die Nationalspieler der Mannschaft Irans tun, wenn die Hymne gespielt wird oder wenn sie ein Tor erzielen.
Die Antwort: ein gespaltenes Bild. Ein Teil der Menschen im Stadion jubelten dem Team zu, zeigten die offizielle Staatsflagge. Der andere Teil protestierte, zeigte Plakate und Flaggen aus der Vor-Revolutionszeit mit dem Slogan "Frau, Leben, Freiheit". Trotzdem drückten offenbar viele Menschen im Iran den Engländern und nicht dem eigenen Team die Daumen.
Denn: Viele Iraner:innen jubelten über Englands deutlichen 6:2-Sieg.
Fußballer erfahren Lob für Nicht-Singen
Während die iranischen Spieler im Ausland dafür gelobt wurden, dass sie die Hymne nicht mitsangen, stößt die Mannschaft um Trainer Carlos Queiroz im Iran größtenteils auf Ablehnung.
Trainer Irans kritisiert Fans
Irans Trainer Queiroz kritisierte die Fans aus dem Iran. Die machte er für die Niederlage verantwortlich. Die Moral seiner Spieler sei durch den fehlenden Support angegriffen gewesen.
Im Stadion gab es ein gespaltenes Lager aus Regimetreuen und Gegner:innen des Staatssystems. Neben "Iran, Iran"-Gesängen hörte man auch "Ehrlos, ehrlos"-Rufe. Neben den Flaggen der Islamischen Republik, mit dem "Allah Akbar"-Schriftzug entlang des grünen und des roten Streifens in den Querbalken, waren auch viele grün-weiß-rote Fahnen mit dem Slogan der Freiheitsbewegung "Frau, Leben, Freiheit" zu sehen.
Eine Frau hielt die alte Flagge aus der Zeit vor der islamischen Revolution von 1979 hoch. Zur monarchistischen Zeit prangte im mittleren Streifen in goldener Farbe ein Löwe mit Schwert und aufgehender Sonne im Rücken.
Diese Frau wurde laut Berichten in sozialen Netzwerken nach dem Spiel vor dem Stadion von katarischen Sicherheitskräften festgesetzt. In einem Video, das ihr Partner aufnahm, ist zu sehen, wie sie am Verlassen der Sportstätte gehindert worden sein sollen. Dabei sollen die katarischen Beamten von einem iranischen Offiziellen begleitet worden sein.
Besuch beim Staatspräsidenten
Zeichen der Opposition gab es im und vor dem Stadion. Und Jubel über die Niederlage in vielen iranischen Städten. Kritik an der Mannschaft gab es jedoch schon weit vor der Begegnung zwischen England und Iran. Der Besuch der iranischen Mannschaft beim Staatspräsidenten Ebrahim Raisi sorgte in der Art für heftige Kritik. Bilder davon, wie die Fußballer sich vor ihm verneigten, stießen den Kritiker:innen des Regimes gewaltig auf.
Außerdem sorgten die PR-Fotos der Spieler vor dem Turnier-Start für Unmut. Die glücklichen Gesichter der Fußballer passten nicht zur Trauer, Wut und zum Überlebenskampf vieler Landsleute im Iran, so die Kritik.
Ehsan Hajsafi, der Kapitän der iranischen Elf, hatte als erster in der Pressekonferenz vor dem England-Spiel seine Verbundenheit mit seinen Landsleuten geäußert. Er sagte:
"Wir müssen akzeptieren, dass die Bedingungen in unserem Land nicht stimmen und unsere Leute nicht glücklich sind. Sie sollen wissen, dass wir bei ihnen sind. Und wir unterstützen sie. Und wir sympathisieren mit ihnen in Bezug auf die Bedingungen."
Es hat viele Beispiele gegeben, wie der Sport eine Projektionsfläche für den breiten Protest gegen das Regime ausdrücken kann. Das Basketballteam der Frauen posierte beispielsweise ohne Kopftuch für ein Mannschaftsbild.
Die Beach-Fußballer gewannen in einem Turnier das Finalspiel gegen Brasilien und jubelten nicht. Beim Siegtor schnitt sich der Torschütze sogar symbolisch die Haare ab, aus Solidarität mit den kämpfenden Frauen seines Landes. Ex-Bayern-Profi Ali Karimi twitterte diese Szene und schrieb dazu: "Iranisches Nationalteam mit Ehre."
Auch andere Ex-Bundesliga-Profis äußerten sich: Vahid Hashemian (früher beim FC Bayern, VfL Bochum, Hannover 96 und HSV), der Ex-Hamburger Mehdi Mahdavikia und vor allem Ali Daei. Letzterer lebt als einziger noch im Iran und galt zeitweise als verhaftet. Sein Pass wurde einbehalten, damit er nicht ausreisen kann. Der Ex-Berliner und Ex-Bayern-Profi äußerte sich regelmäßig zu den Protesten.
Ein aktueller Nationalspieler hatte noch vor der WM mit seiner Kritik für Aufsehen gesorgt. Der Leverkusener Profi Sardar Azmoun wurde erst in der 77. Spielminute eingewechselt.
Mit einem Aluminium-Treffer sorgte er spielerisch für etwas Aufsehen, aber ein politisches Statement zeigte er auf dem Spielfeld nicht. Auch das war eine Enttäuschung für einige iranische Fans.
Vor dem Start der WM hatten einige Iraner:innen sogar den Ausschluss "ihres" Team gefordert. Stattdessen hätte die Ukraine nachziehen können, so ihre Forderung. Denn ihr Team sei es schon lange nicht mehr.
"Team Mullah" statt "Team Melli"
Viele im Land nennen die Mannschaft längst nicht mehr "Team Melli" – was wörtlich National-Team bedeutet. Für sie ist es das Team der "Islamischen Republik". Wenn das verliert, gewinnt die iranische Bevölkerung.
Auf die anderen beiden Gruppen-Spiele blicken Iraner:innen auch schon. Sie drücken Wales und den USA die Daumen, nicht dem "Team Melli". Katajun (Name geändert), ist eine iranische Frau, die beim Fußball mitfiebert und sich eigentlich mit ihrem walisisch stämmigen Mann necken wollte, "wie wir es bei Dortmund und Bayern auch tun", sagt sie im Gespräch mit watson. Nun fiebert sie allerdings mit ihrem Mann und hofft auf einen Sieg der Mannschaft aus Wales.
Ein weiterer Fan, mit dem watson gesprochen hat, ist Nico. Er ist Halb-Iraner und drückt nach eigener Aussage immer Demokratien die Daumen, wenn sie gegen Autokraten spielen. Deshalb unterstützt er Wales und insbesondere das US-Team. "Ich mache das dieses Mal tatsächlich davon abhängig, wie sehr ein Land die Revolution anerkennt und unterstützt."
Am Dienstag, 29. November, steht das dritte Spiel in der Vorrunde an: Die Begegnung zwischen dem Iran und der USA dürfte nochmal mit besonderer politischer Spannung aufgeladen sein. Bis dahin könnte es sportlich für die iranische Mannschaft schon vorbei sein bei der WM-Endrunde.
Für das iranische Regime ist die Begegnung gegen den Erzfeind USA ein Prestige-Duell. Für die Menschen im Iran dagegen eine Gelegenheit, mit dem, für das Regime verhasste, "Stars-and-Stripes" ihre Haltung auszudrücken.
Seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine liefert Apple keine Produkte mehr nach Russland. Auch Apple Pay und Apple Maps stellte das Unternehmen dort ein. Trotzdem stand Apple schon häufiger in der Kritik, inoffiziell mit dem Kreml zu kooperieren.