Da war was los am Sonntagabend!
Kurz nach der "Tagesschau" veröffentlicht Mesut Özil sein drittes und letztes Statement zu den Vorwürfen nach dem WM-Aus und dem Erdoğan-Foto. Özil tritt aus der Nationalmannschaft aus, weil er sich nicht mehr willkommen fühlt.
Özil sagte unter anderem:
Damit traf der 29-jährige Fußballstar nicht nur bei seinen Fans einen Nerv, sondern griff ein Gefühl auf, das vielen tausenden Nicht-Bio-Deutschen bekannt ist.
Das Gefühl, nie genug leisten zu können, um endlich dazuzugehören. Ständig Gast in der eigenen Heimat zu sein. Sich entweder komplett anpassen zu müssen und dann noch immer nie Teil der Mehrheitsgesellschaft zu sein.
Özils – kritikwürdiges – Foto mit dem türkischen Präsidenten war der willkommene Anlass, um wieder einmal zu zeigen, wer hier in Deutschland das Sagen hat. Und dem schwelenden Rassismus ein sportliches Gesicht zu geben.
Aber eine muss es jetzt mal sagen:
Ein Beispiel? Nach 50 Jahren haben die meisten Deutschen noch immer nicht gelernt, wie man türkische Namen ausspricht. (Das "ğ" wird weich ausgesprochen, Leute!)
Es hat sich in Deutschland seit der Gastarbeitergeneration nichts geändert. "Der Özil hat halt schlecht gespielt!" könnte genau so gut "Der hat halt nicht gut gearbeitet" heißen.
Denn egal, was Nicht-Bio-Deutsche tun, der Gast-Status haftet ihnen an, wie ein schlechtes Image. Und wer Gast ist, hat sich zu benehmen. Sonst wird man rausgeschmissen. Weil hier jemand anderes das Hausrecht hat.
Diese Gast-Position kennen Nicht-Herkunftsdeutsche schon seit Generationen. Da muss man sich einfach nur die erste Gastarbeitergeneration ansehen. Sie war in den Sechzigerjahren nach Deutschland gekommen, um zu arbeiten, der deutschen Wirtschaft auf die Sprünge zu helfen und Geld zu verdienen. Als neue Heimat war Deutschland für sie nie angelegt. Lieber sollten sie ihre Arbeit verrichten und wieder gehen. Gefangen in der Diaspora, lernten sie oft nicht Deutsch zu sprechen und versuchten, sich eine Heimat in der Fremde zu schaffen. Sie sind verstummt.
Die zweite Generation wurde in Deutschland geboren, sollte es besser haben und musste umso härter arbeiten, um gesellschaftlich aufzusteigen. Und tatsächlich: Obwohl sie oftmals sozial benachteiligt war, gab es einige "Erfolgsbeispiele": Viele "Deutsch-Türken" beispielsweise haben sich fast überangepasst, sind zu "Vorzeige-Türken" geworden.
Das war auch die Zeit, in der es erst einmal so aussah, als würde alles besser werden. Comedy wie die von Kaya Yanar half Deutschen dabei, "diese Türken" zu verstehen, indem man über sie lachen konnte. Gleichzeitig können durch den Humor schmerzhafte Ausgrenzungserfahrungen verarbeitet werden. Der "Ausländer" wurde in der deutschen Gesellschaft endlich sichtbarer. Menschen mit nicht-herkunftsdeutschem, familiären Hintergrund bekamen sogar allmählich politische Ämter. Trotzdem sollte der migrantische Background aber definitiv auch im Hintergrund bleiben. Viele Migrantenkinder bekamen Chancen, weil sie deutscher als die Deutschen wurden.
Die dritte Generation wollte sich nicht assimilieren und sich endlich von dem Schweigen ihrer Großeltern abgrenzen. Einige wandten sich wieder ihren vermeintlichen Wurzeln zu, erschafften einen Hybrid aus dem Hier und Jetzt und einer Sehnsucht nach der anderen Heimat. Bei allen Versuchen, sich zu integrieren, wurden und werden sie noch immer als "der oder die Andere" degradiert und festgesetzt. Die meisten der dritten Generation sehen sich als selbstverständlich deutsch an. Warum auch nicht, sie sind ja hier geboren, haben den deutschen Pass. Wer darf ihnen da Deutschsein absprechen?
Auch Özil gehört dieser dritten Generation an, hat jahrelang für Deutschland gespielt, nur um am Ende als "Türkenschwein" beschimpft zu werden, wie er in seinem Statement berichtet.
Und trotzdem: Immer wieder verhandeln Deutsche mit schier endlosen Kopftuch- und Islamdebatten darum, was zu "ihrem" Land gehöre und was nicht. Aber spätestens mit 2015 ist dann der Rassismus, der unter anderem in der "du-bist-für-immer-unser-Gastarbeiter"-Haltung schwelte, unverhohlen ausgebrochen.
Mittlerweile, nach dem Einzug der AfD in den Bundestag, gibt es eine neue Qualität in Diskussionen. Der gesellschaftliche Ton wurde rauer – und rechter.
Hinzu kommt noch ein weiterer Reflex der Mehrheitsgesellschaft: Wenn sich dann irgendwann, nach jahrelangen Versuchen dazuzugehören, einige "Deutsch-Türken" abwenden und ihre Heimat an anderen Orten suchen, sieht sich der Integrationsforderer bestätigt: "Na das war ja klar, der Türke will sich ja gar nicht integrieren." Ähnlich bei Özil: Solange er abliefert, ist er willkommen. Sobald etwas nicht funktioniert, stellt sich heraus: Er war nie willkommen. Er ist nur geduldet.
Was viele anscheinend nicht verstehen wollen: Es ist völlig logisch und legitim, sich türkisch zu fühlen, während man gleichzeitig vollwertiges Mitglied der deutschen Gesellschaft sein möchte. Es geht komplett auf, wenn Özil sagt, in seiner Brust schlagen zwei Herzen. Die Entweder-Oder-Haltung kommt aus einem Anspruch der Deutschen, die Deutungshoheit über Identitäten beanspruchen.
Millionen Türken allein in Deutschland sind aber ein sowohl-als-auch. Und vielleicht wäre es jetzt endlich mal an der Zeit, dass das die deutsche Mehrheitsgesellschaft anerkennt. Vielleicht erkennen jetzt die vielen Integrationsforderer endlich, wie bigott ihre Forderungen sind.
Wahrscheinlich ist das aber nicht der Fall. Wahrscheinlich bleiben die viele Millionen Menschen, die nicht herkunftsdeutsch sind, weiterhin Gast in ihrer eigenen Heimat.
Eine Hoffnung gibt es aber noch: Mesut Özil, mit seinen vielen Millionen Fans weltweit, könnte der erste Sonderfall sein, dem die Mehrheitsgesellschaft endlich zuhört. Sein Fall könnte jetzt eine Debatte in Deutschland auslösen, bei der ein Migrantenkind erstmals so etwas wie Deutungshoheit erlangt. So könnte er für viele Millionen Menschen in Deutschland sprechen, die nicht herkunftsdeutsch sind. Denen wird nämlich weiterhin nicht zugehört.