Als Kind lief Nino Haratischwili bei Dunkelheit durch die Straßen. Dann schaute sie in die von Licht gefluteten Fenster, stellte sich vor, welche Menschen sich dahinter verbergen würden, und welche Biografien sie wohl haben. Wer dort lebt, vielleicht liebt oder streitet.
Für sie war es ein Spiel. In Tiflis. Georgien. Ihrem zweiten Zuhause am Rande der westlichen Welt.
Dort wird sie vor 36 Jahren geboren. Hinein in eine Welt, die dabei ist zu zerfallen. Die Sowjetunion bricht allmählich zusammen, das Land versucht sich zu befreien. Haratischwilis Kindheit ist geprägt von Kriegen mit Russland um die Unabhängigkeit des Landes. Das russische Militär ist in Teilen Georgiens noch heute präsent.
Haratischwili wächst im Sololaki-Viertel auf, hier zeichnen Höfe das Stadtbild am Fuße des Berges Mtazminda. Die Wohnungen sind dicht gedrängt, es gibt kaum Privatsphäre. Haratischwilis engste Bezugspersonen sind die Mutter, die Tante, die Cousine, "Frauenoverload", wie sie sagt. Über allem thront die Kartlis Deda, die Mutter Georgiens. Eine Statue, die milde lächelnd auf die Stadt blickt. Freunde begrüßt sie mit einer Schale Wein in der linken, Feinde mit einem Schwert in der rechten Hand. Nach der Unabhängigkeit Georgiens 1991 wird ihr ein Lorbeerkranz aufgesetzt, auch der Kopf wird angehoben. Demut soll dem Stolz weichen. Doch etwas Gequältes bleibt. In ihrem Blick. Auf diese Stadt. Über der Melancholie liegt.
Heute liegt sie über Haratischwilis Worten.
Haratischwili ist zwölf, als ihre Mutter mit ihr nach Deutschland geht. In Georgien herrschen Chaos, Korruption, Hungersnöte, die Wirtschaft liegt am Boden. Manchmal darf sie nicht draußen spielen, weil gerade geschossen wird. Nach zwei Jahren kehrt sie zunächst wieder zurück nach Georgien, um schließlich endgültig nach Deutschland zu ziehen. Vielleicht ist Haratischwili die, die "die Heimat verließ, um sich zu finden und sich doch zunehmend verlor". So, wie sie es später in einem ihrer Romane beschreibt.
Noch als Jugendliche gründet Haratischwili eine deutsch-georgische Theatergruppe. Dort merkt sie, dass ihre Geschichten ein Publikum haben. Sie studiert erst Filmregie in Tiflis und dann Theaterregie in Hamburg. Und sie schreibt.
2010 erscheint ihr Debütroman "Juja", 2014 folgt ihr Durchbruch. Mit "Das achte Leben (Für Brilka)" wird sie in Deutschland einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Auf über 1000 Seiten erzählt sie eine Familiengeschichte über fünf Generationen. 100 Jahre georgische Geschichte: Revolutionen, Demokratie, Kriege, Säuberungen und Kommunismus kommen und gehen. Sie verdanke "diese Zeilen einem Jahrhundert, das alle betrogen und hintergangen hat, alle die, die hofften".
Obwohl Georgisch Haratischwilis Muttersprache ist, schreibt sie auf Deutsch. Ins Georgische werden ihre Romane übersetzt. Auch ihr jüngster und mittlerweile vierter Roman "Die Katze und der General". Er handelt von Misshandlung und Mord an einer jungen Frau im ersten Tschetschenienkrieg. "Ein Krieg", sagt sie, "reißt die Biografien aller ein, über Generationen hinweg. Jeder kann schuldig werden. Jeder kann im Prinzip alles machen. Und die letzte Frage ist dann nur: Wer macht es nicht?"
Haratischwilis Themen sind die großen. Wie sollte es auch anders ein? Sie wurde hineingeboren in eine Welt, die ihr kaum eine Wahl ließ. Sie schreibt über die Vergessenen. Über die, die es nicht in die Geschichtsbücher schaffen. Über das Große im Kleinen. Über die, die "ein Haus mit eigenen Händen gebaut, einen Garten angelegt, eine Giraffe entdeckt, eine Wolke beschrieben und den Nacken einer Frau besungen hätten". Weil es darum geht, Worte für das Schweigen zu finden – für die dunklen Pointen des Lebens. Immer genau, immer am Menschen erzählt, tief, in allen Farben. Mehr kann Literatur nicht leisten. Weniger sollte sie nicht. Haratischwili will hinter das Offensichtliche blicken, hinter das Licht in den Fenstern.