An der Grenze zu Polen hat die Polizei am Sonntag rund fünfzig Menschen aufgegriffen. Sie sind einem Aufruf der rechtsextremen Partei Der Dritte Weg gefolgt und nennen sich "Grenzgänger". Nach eigenen Angaben wollen sie illegale Grenzübertritte verhindern, überschreiten dabei aber selbst manchmal die Grenze zur Legalität.
"Die Asylflut hat nie aufgehört – nun gibt es eine neue Hochphase", schreibt die rechtsextreme Splitterpartei Der Dritte Weg auf einer Homepage, auf der ihre Mitglieder Menschen dazu auffordern, an der Grenze zu patrouillieren, ausgestattet mit Stirnlampe und Nachtsichtgerät – "wenn vorhanden". Sogar für die Verpflegung will sie aufkommen.
Das mag auf den ersten Blick absurd klingen. Aber die selbsternannten Grenzschützer stellen eine zunehmende Bedrohung für Schutzsuchende dar.
Von Patrouillen möchte der Sprecher der Polizeidirektion Brandenburg Süd nicht sprechen. "Wir haben sie daran gehindert", sagt Maik Kettlitz. Und das habe die Polizei auch in Zukunft vor. Kettlitz sagt auf Anfrage von watson:
Am vergangenen Wochenende hätten Platzverweise gereicht, sagt der Sprecher. Wäre jemand aber ein zweites Mal aufgegriffen worden, hätte er die Nacht wohl in der Zelle verbringen müssen. Bei den bisher ermittelten Personen handele es sich um Menschen aus dem Dunstkreis der rechten Szene. Bei manchen seien Waffen gefunden worden, darunter Schlagstöcke, Pfefferspray und schlagverstärkende Quarzsandhandschuhe, auch ein Bajonett und eine Machete.
Laut Polizei ist die Lage ernst: "Die Polizei ist auf alles vorbereitet und uns ist bekannt, dass einzelne Personen im extremistischen Spektrum nicht vor Gewaltanwendung zurückschrecken", sagt Kettlitz. Gegen die Eigentümer der beschlagnahmten Gegenstände seien Strafverfahren eingeleitet worden. Bei den selbsternannten "Grenzgängern" handele es sich bei weitem nicht nur um Menschen aus Brandenburg: "Das war eine überregionale Aktion, da waren Menschen aus Brandenburg, Bayern, Sachsen, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern", stellt der Polizeisprecher klar.
Was treibt diese Menschen an, wie funktionieren solche Netzwerke und wie sicher sind schutzbedürftige Menschen in Deutschland? Darüber hat watson mit Wissenschaftlerinnen und Antirassismusexperten gesprochen.
"Wir haben es weder mit Einzelfällen noch mit einem überraschend neuen Phänomen zu tun", stellt Andreas Zick fest. Er ist Sozialpsychologe und Professor für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Uni Bielefeld. Zick ordnet die Lage an der Grenze so ein:
Aus Sicht der Politikwissenschaftlerin Nina Bust-Bartels handelt es sich bei der angeblichen Grenzssicherung um eine neue Dimension der Bürgerwehr. Bust-Bartels hat für ihre Doktorinnenarbeit Bürgerwehren genauer beobachtet und auch aus Forschungszwecken begleitet. Sie sagt:
Wodurch sich die neue Dimension ebenfalls zeige: Bisher hätten extrem gewaltbereite und radikale Gruppierungen im Verborgenen gearbeitet, erklärt Bust-Bartels. Der "Grenzgang" hingegen, wurde offiziell und öffentlich angekündigt.
Nicht verwunderlich sei allerdings die Tatsache, dass sich direkt eine Gruppe von Menschen gefunden hätte, die dem Aufruf der Partei Der Dritte Weg gefolgt seien. "Gerade 2015 und 2016 haben sich sehr viele solcher 'Bürgerwehren' gegründet. Aber nur weil es jetzt ein paar Jahre ruhiger war, heißt das nicht, dass die Menschen sich plötzlich untereinander nicht mehr kennen – sie stehen ja trotzdem in Kontakt", sagt die Politikwissenschaftlerin.
Aus Sicht des Gewaltexperten Andreas Zick sind die Netzwerke der selbsternannten "Bürgerwehren" abrufbereiter als je zuvor. Er erklärt: "Bei unserer Forschung ist uns aufgefallen, dass die Netzwerke immer differenzierter werden, das heißt, in den Netzwerken werden die Rollen aufgeteilt. Die einen machen Propaganda, andere bilden Bürgerwehren."
Das bedeute nicht nur, dass die Mobilisierung einfacher sei, als früher, sondern auch, dass solche Aktionen radikalisierungsfähig seien. Zick sagt: "Aktionen in der Szene sind immer auch Auftakt weiterer Aktionen und werden gegenseitig gelobt."
"Das Hauptmotiv ist Rassismus", sagt Sebastian Seng vom Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit. Die Menschen, die dem Aufruf der rechtsextremen Splitterpartei folgten, seien entweder selbst ideologisch verfestigte Rassisten oder gehörten zum Umfeld solcher.
"Dieser Rassismus wird entweder biologisch – also aufgrund von Hautfarbe – oder kulturell begründet", sagt Seng. In beiden Fällen dürften sich die Kollektive – also die jeweiligen Nationalitäten – nicht mit anderen Kollektiven vermischen. "Das eigene Kollektiv löst sich auf, wenn es sich mit anderen vermischt", sagt Seng. "Und die Anhänger dieser Ideologie sehen sich darin existenziell bedroht, weil sie ihre eigene Identität über das Kollektiv bestimmen."
Andreas Zick sieht gleich zwei Stellen, an denen Rechtsextreme in den vergangenen Jahren eine klare Ideologie entwickelt hätten: der Widerstand gegen die Fluchtmigration und der Widerstand gegen die Coronamaßnahmen. "Sie einen nationale und menschenfeindliche Ideologien wie das gemeinsame Motiv des Widerstands. Das ist die Identität, die Aktionen trägt", erklärt der Gewaltforscher. Manche Gruppen würden durch gemeinsame Aktionen gestärkt, andere glaubten so fest an den nationalen Widerstand, dass aus ihrer Systemkritik eine Systemfeindschaft geworden sei.
Bust-Bartels sieht aber noch einen weiteren Punkt, ein weiteres Motiv der Gruppierung. Dieses Motiv könnte aus Sicht der Wissenschaftlerin politisches Kalkül sein: "Durch die Aktion wird eine politische Botschaft vermittelt und es werden Ängste geschürt – nämlich, dass der Sicherheitsapparat nicht in der Lage sei, Deutschland zu schützen." Sie zeigt sich besorgt, dass es der Partei Der Dritte Weg gelingen könnte, die Erzählung, Deutschland würde von Flüchtlingen überrannt, zu aktivieren. "Dann kann es sein, dass an anderen Orten wieder Netzwerke auferstehen"
Aus Sicht von Zick sind drei Dinge im Umgang mit rechten "Bürgerwehren" von besonderer Bedeutung: strafrechtliche Aufklärung, Entwaffnung und Unterstützung für Kommunen mit starker rechter Szene. Oftmals gewöhnten sich die Bürgerinnen und Bürger betroffener Ortschaften an die Extremisten und begännen sie zu unterstützen, oder aber sie würden zu sehr eingeschüchtert, um dagegen zu sprechen. Zick sagt: "Der Rechtsextremismus möchte Menschen und Institutionen in Angst und Schrecken versetzen. Also müssen wir Kommunen helfen, damit zuzugehen, wenn das passiert."
Dass sich Menschen solchen Bewegungen anschlössen, hängt aus Sicht von Sebastian Seng auch mit der Art und Weise zusammen, wie die öffentliche Debatte geführt wird. "Ich war schockiert, als Seehofer von den Menschen, die über die Belarus-Rute fliehen, als hybride Bedrohung sprach", sagt Seng.
Innenminister Horst Seehofer hatte in einer Pressekonferenz am vergangenen Mittwoch über die Migration über die Belarus-Route gesprochen – in diesem Zusammenhang nannte er die Asylsuchenden eine politische Waffe des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko und sprach von einer hybriden Bedrohung, die von der Situation ausgehe.
Seng führt aus:
Aus Sicht von Seng sollte auch nicht von einer Angst der Menschen vor illegaler Migration gesprochen werden. Er sagt: "Die Wurzel ist nicht Angst, sondern Rassismus. Eine Angst vorzuschieben, ist nur eine Ausflucht, um die eigene Ablehnung im Diskurs halten zu können." Eigene Gefühle kämen unschuldig daher, dadurch sei es leichter, sie der Politik aufzutragen.
Auch Bust-Bartels ist davon überzeugt, dass das Framing eine große Rolle spiele: "Letztendlich stehen dann die Aussagen des Innenministers in der Berichterstattung und im nächsten Satz wird von Rechten geschrieben, die an der Grenze patrouillieren – das führt natürlich zu einer wahrgenommenen Angst und einem Bedrohungsszenario." Sie sagt weiter: "Der Subtext ist, die Polizei schützt uns nicht." In diesem Sinne seien die Patrouillen ein Angriff auf die Demokratie.
Gleichzeitig sei für sie klar, dass die Menschen, die bewaffnet an der Grenze aufgegriffen wurden, Rechtsextreme und Neonazis sind – hier müsse das Rechtssystem greifen, auf politischer Ebene gebe es aber kaum eine Möglichkeit, diese Menschen zurück auf demokratischen Boden zu holen. "Wenn sich jetzt aber abzeichnet, dass es wieder mehr Bürgerwehren an immer mehr Orten gibt und sich das Phänomen ausbreitet, dann sollten Politikerinnen und Politiker auf lokaler Ebene auf die Menschen zugehen, mit ihnen sprechen und überlegen, wie ihnen etwaige Ängste genommen werden könnten", sagt Bust-Bartels und fügt an: "Gleichzeitig ist es wichtig, rechtsextreme Bürgerwehren konsequent davon abzuhalten, im öffentlichen Raum Angst zu verbreiten."
"Wenn Migranten als fremd gelesen werden können, sind sie in Deutschland nicht sicher", sagt Sebastian Seng. Natürlich käme das auch darauf an, wo die Menschen dezentral untergebracht würden. "Es gibt Orte, da finden die Geflüchteten Anschluss an eine Community, es kann aber auch passieren, dass sie sich in einer AfD-Hochburg wiederfinden. In einem solchen Umfeld sind die Geflüchteten nicht sicher", fasst Seng zusammen.
Auch Sozialpsychologe Andreas Zick geht davon aus, dass Geflüchtete in unsichere Gebiete gelangen könnten. "In vielen Grenzregionen ist ein migrationsfreindlicher Rechtspopulismus stark, und da ist es unsicher", erklärt er. Angriffe auf Einwanderer und Menschen, die nach Deutschland flüchteten, kenne man auch schon aus der Nachkriegszeit und der Zeit nach der Wende: "Sie treffen auf Vorurteile, Ressentiments und kriegen sie zu spüren", meint Zick.
Gleichzeitig gebe es eine enorme Willkommenskultur, gerade in Regionen mit Migrationsgeschichte. "Wenn Asylsuchende dort landen, dann sieht die Situation ganz anders aus", erklärt Zick und nennt als Vorzeige-Beispiel die Stadt München. Dort sei es gelungen, eine Willkommenskultur in der Zivilgesellschaft zu etablieren, die durch Integrationsangebote der Stadt begleitet würde – so würde die Teilhabe der Geflüchteten gefördert.