Der russische Präsident Wladimir Putin und die Staatsmänner Zentralasiens blicken nicht mehr in dieselbe Richtung, wodurch die Stimmung angespannt ist. Bild: IMAGO / SNA
Analyse
Russland ist isoliert, wie noch nie zuvor. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen die Ukraine hat das Land ins Abseits geschossen. Russland ist geschwächt und das spüren auch seine Verbündeten – vor allem die postsowjetischen Staaten Zentralasiens.
Bei dem Gipfeltreffen in Astana hat sich Wladimir Putin mit den Staatsmännern Zentralasiens getroffen.Bild: Kazakhstan's President Press Office
"Putin hat diese Region nie als einen Ort angesehen, den er in absehbarer Zeit verlieren könnte", sagt Zentralasien-Experte Temur Umarov im Gespräch mit watson. Der Politikwissenschaftler forscht an der Carnegie Stiftung für Internationalen Frieden. Russland verliere zunehmend an Einfluss, Vertrauen und Respekt unter den zentralasiatischen Staatschefs.
Einer von ihnen lehnt sich weit aus dem Fenster und traut sich, Putin öffentlich zu tadeln. Der Präsident von Tadschikistan, Emomalij Rahmon, erteilt Putin mit einer aufbrausenden und emotionalen Rede eine Lektion auf dem Gipfeltreffen in Astana.
Doch wie konnte es so weit kommen?
Der Krieg in der Ukraine hat die Dynamik verändert
Laut dem Experten Umarov hat sich die Stimmung seit dem Krieg in der Ukraine verändert. Dies bekam man ihm zufolge auch auf dem Gipfeltreffen zu spüren. Die zentralasiatischen Staatsmänner wirkten auf den Experten so, als distanzierten sie sich von Putin. Umarov nimmt an, dass sie nicht ausgelassen und freundlich neben Putin posieren wollten – schließlich könnte das ihren Ruf in der internationalen Gemeinschaft ins Wanken bringen. Auf der anderen Seite genießen sie die große Aufmerksamkeit, die sie nun von Putin erhalten.
Der Experte sagt dazu:
"Putins Interesse an Zentralasien war noch nie zuvor so groß gewesen. In den vergangenen sechs Monaten hat er die Region bereits dreimal bereist, dabei alle Länder bis auf Kirgisistan besucht."
Die Länder Zentralasiens nehmen die Isolation und Schwäche Russlands als Chance wahr, um Ziele zu erreichen, die vor dem Krieg in der Ukraine unvorstellbar gewesen wären, meint Umarov. "Einige nutzen die Situation aus, um langsam von Russland abzudriften und es durch andere Verbündete zu ersetzen", sagt der Politikwissenschaftler. Andere wiederum stellen mutig höhere Forderungen an Russland – wie etwa der tadschikische Präsident Rahmon.
Rahmons Wutrede gegen den russischen Präsidenten
Rahmon gilt noch als der engste Verbündetet Putins in der Region, umso überraschender waren seine Worte gegen den russischen Präsidenten. "Wir erwarten, dass ihr uns achtet", sagt er im strengen Ton und führt fort:
"Ich bitte Sie, die zentralasiatischen Länder nicht so zu behandeln, als wären sie die ehemalige Sowjetunion. Jedes Land hat seine eigenen Probleme, Traditionen."
Der tadschikische Präsident Emomalij Rahmon teilt gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin aus.Bild: imago images
Rahmon wendet sich direkt an Putin und sagt, Tadschikistan und andere Länder in der riesigen Region sind wie Außenseiter behandelt worden. Er deutet an, dass die Region mehr Investitionen aus Moskau verdiene.
Putin wirkt sichtlich angespannt, während Rahmon ihn vor den Staatsmännern von Kasachstan, Kirgisistan, Turkmenistan und Usbekistan eine Lektion erteilt.
Umarov zufolge darf diese Rede aber nicht falsch interpretiert werden. Er sehe sie nicht als Zeichen dafür, dass Putin Tadschikistan als engsten Verbündeten verliere. Rahmon verfolge ein anderes Kalkül.
Umarov sagt dazu:
"Es ist ein pragmatischer Versuch Rahmons, die Schwäche Russlands auszunutzen, um mehr Profit für sich herauszuschlagen. Sprich, mehr von Putin zu verlangen."
Rahmon fühlt sich frei, Russlands Politik in Zentralasien öffentlich zu kritisieren. Laut Umarov hat er ein gutes Verhältnis zu Putin. Dazu ist Rahmon der letzte Staatsmann, der sein Land seit der Sowjetzeit führt. Deshalb fühlt er sich Umarov zufolge privilegiert, diese harschen Worte gegenüber Putin auszusprechen.
Tadschikistan will für seine Treue belohnt werden
Es geht um Geld und um Sicherheit. Umarov zufolge verlangt Rahmon mehr russische Investitionen in sein Land. "Außerdem will er, dass sich Russland stärker für die Stabilisierung und Sicherheit Tadschikistans einsetzt", sagt der Experte. Dabei gehe es auch um die Absicherung der Grenze mit Afghanistan und Rahmons Sorge vor den Taliban.
"Zentralasien sieht Russland nicht als stabilen Partner an."
Die russische "Militärbasis 201" in Tadschikistan ist laut Umarov nicht mehr so ausgestattet wie früher. Die Zahl der russischen Soldaten nehme drastisch ab. "Vor dem Krieg in der Ukraine seien dort 6000 Russen stationiert gewesen. Medienberichten zufolge hat sich die Anzahl halbiert", sagt er. Russlands Aufmerksamkeit liegt voll und ganz auf dem Krieg in der Ukraine.
Umarov sagt weiter:
"Rahmon versteht, dass das Ansehen der russischen Armee gesunken ist und damit das Sicherheitsversprechen Putins. Er fragt sich, ist Russland noch in der Lage Tadschikistan im Notfall zu schützen?"
Russland habe Zentralasien nie in seiner Außenpolitik priorisiert, gleichzeitig sei Putin nicht davon ausgegangen, dass diese Region eines Tages rebellieren würde. Putin war sich Umarov zufolge sicher, dass die Region Russland braucht. Aber das Blatt hat sich gewendet. "Zentralasien sieht Russland nicht als stabilen Partner an", meint Umarov. Rahmons Worten zufolge wünschen sie sich das gleiche Engagement, das Putins etwa in afrikanische Länder steckt.
Das russische Engagement in Afrika sei im Vergleich zu Zentralasien höher, sagt Umarov. Seiner Meinung nach besteht dort eine gute Gelegenheit für Russland, mit anderen Ländern um Einfluss und Ressourcen zu ringen. In Zentralasien habe Putin angenommen, dass Russland eine "alleinstehende Position" innehalte. Doch dann kam China.
China als neuer Partner Zentralasiens
China erkennt das Potenzial Zentralasiens und nutzt es. So soll etwa das chinesische "Gürtel-und-Straßen-Projekt" die zentralasiatischen Länder mit der Weltwirtschaft verbinden. Eine moderne "Seidenstraße", um die ganze Welt wirtschaftlich zu verflechten, davon träumt der chinesische Präsident Xi Jinping.
Zentralasien profitiert – durch chinesische Investitionen. Dies stellt Umarov zufolge Russland in den Schatten. Das erfahre vor allem Kasachstan.
Der chinesische Präsident Xi Jinping investiert zunehmend in Zentralasien. Bild: Xinhua / Yao Dawei
Kasachstan ist das verloren gegangene Kind Russlands
Kasachstan versucht sich laut Umarov von Russland zu lösen, wo immer es möglich ist. Dabei verlässt es sich auf die Unterstützung anderer Länder wie China. Der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew verkündete, dass er Russlands Krieg nicht unterstützt. "Das zeigt auch, dass er sich seiner Position als Präsident sicher sein muss. Sprich, dass er keine Aufstände wie im Januar erwarte", meint Umarov. Damals war Tokajew noch auf die Unterstützung Putins angewiesen, um die Lage zu stabilisieren. Doch jetzt ist alles anders.
Russland muss mehr in Zentralasien tun
Russland hat laut Umarov jahrzehntelang verpasst, Möglichkeiten zu nutzen, die Zentralasien bietet. Putin verstehe nun, dass er der Region mehr Aufmerksamkeit widmen muss, bevor sich diese postsowjetischen Länder zu proaktiven Partnern verwandeln. Die Rebellion Zentralasien bedeute für Russland, dass es mehr Zeit, Energie und Ressourcen aufwenden muss, um seine Position in der Region zu sichern.
Der kasachische Präsident Tokajew (l.) und tadschikische Präsident Rahmon (r.) drängen Putin in die Enge. Bild: IMAGO / ITAR-TASS
Umarov fasst zusammen:
"Putin wird versuchen, sein Image in Zentralasien zu verbessern. Dass Russland ein Land ist, das nicht nur Druck ausübt, sondern auch etwas zurückgibt."
Schon seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hat die Diskussion um die Wehrpflicht wieder Fahrt aufgenommen. Die Ampel änderte während ihrer Regierungszeit nichts am aktuellen System. Durch die Neuwahlen könnten aber bald schon wieder junge Menschen verpflichtet werden.