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Analyse
27.08.2021, 18:1427.08.2021, 18:38
josephine andreoli
Eigentlich wollte US-Präsident Joe Biden die Mission der Nato-Staaten in Afghanistan nach fast 20 Jahren möglichst geräuschlos beenden. Doch daraus wurde nichts: Bei den verheerenden Anschlägen der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) am Flughafen Kabul wurden mindestens 85 Menschen getötet, darunter auch 13 US-Soldaten. Dutzende weitere Menschen wurden verletzt. Bidens Vorhaben: missglückt. Bidens Ansehen: beschädigt – schon wenige Monate, nachdem seine Amtszeit begonnen hat.
Welche politische Verantwortung trägt Joe Biden für die Todesopfer?
Inwieweit US-Präsident Joe Biden Verantwortung für die zahlreichen Todesopfer trägt, darüber sind sich führende Politikwissenschaftler uneinig. Die gefallenen US-Soldaten brächten Biden innenpolitisch in die Bredouille, erklärt der Politikwissenschaftler und USA-Experte Josef Braml gegenüber watson. "US-Präsident Joe Biden trägt die volle politische Verantwortung für die dramatischen Folgen des unbedachten Abzuges der USA aus Afghanistan", sagt er.
Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München, sieht bei Biden nur einen Teil der Verantwortung für die Todesopfer. Masala erklärte gegenüber watson: "Er trägt bedingt die persönliche Verantwortung für die Todesopfer, weil er ja letzten Endes nur das umgesetzt hat, was sein Amtsvorgänger mit den Taliban vereinbart hat." Für die Art und Weise, wie der Abzug erfolgt sei, macht Masala nicht nur Biden, sondern auch die Europäer, die ihm gefolgt seien, verantwortlich.
Außerdem sieht Masala bei Biden einen Teil des Verdiensts dafür, dass hunderte Staatsbürger von Nato-Staaten evakuiert werden konnten. Man müsse "auch sehen, dass es Biden war, der umgehend die Evakuierungsoperation eingeleitet hat – und der somit, auch wegen der massiven Präsenz der USA in Kabul, dafür gesorgt hat, dass auch andere Nationen ihre Staatsangehörigen und zum Teil Ortskräfte evakuieren konnten."
Biden droht den Terroristen
"Wir werden Euch jagen und Euch dafür bezahlen lassen", sagte Biden am Donnerstagabend im Weißen Haus an die Terroristen gerichtet. Er erklärte, darüber Kenntnis zu haben, wo sich die Drahtzieher der Anschläge aufhielten und eine Möglichkeit zu finden, den IS zur Rechenschaft zu ziehen: "Wir werden nicht vergeben. Wir werden nicht vergessen", so Biden.
Zugleich kündigte er an, die Evakuierung von US-Bürgern und Ortskräften fortzusetzen – trotz anhaltender Terrorgefahr. Noch bis zum kommenden Dienstag soll der Evakuierungseinsatz der gut 5000 US-Soldaten in Kabul weiterlaufen. Die Bundeswehr hatte ihre Luftbrücke aus Kabul bereits am Donnerstagabend beendet.
Was werden die USA jetzt unternehmen?
US-Experte Braml nimmt an, dass die Regierung Biden auf den Anschlag von Kabul mit Drohnenangriffen reagieren wird. Wörtlich sagte er zu watson:
"Um vor allem auch gegenüber seinen Landsleuten wieder mehr Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, wird Biden den globalen Krieg gegen den Terrorismus mit Drohnen fortführen. Ferngesteuerte unbemannte Flugsysteme können zur Aufklärung und Überwachung eingesetzt werden. Mit Raketen bestückt, können diese Drohnen bei Bedarf auch für gezielte Tötungen eingesetzt werden. Drohnen haben den Vorteil für die Weltmacht, dass sie weniger kosten, auch politisch, weil weniger Gefahr für die eigenen Soldaten besteht."
Allgemein geht Braml davon aus, dass die USA ihre Strategie in der Region um Afghanistan verändern werden.
Braml meint:
"Die USA werden sich künftig noch weniger für zerfallende Staaten wie Afghanistan und die davon ausgehenden Sicherheitsbedrohungen für Europa interessieren, sondern wieder mehr auf starke Staaten wie China fokussieren."
Der Abzug aus Afghanistan begründe nun vor allem für Europa die Sorge, "dass das sich entfaltende Chaos wieder mehr Raum für Terroristen schaffen sowie eine große humanitäre Katastrophe mit neuen Flüchtlingsströmen nach Europa auslösen könnte".
Dass es bald zu US-amerikanischen Drohneneinsätzen gegenüber den Terroristen kommen könnte, vermutet auch Politikprofessor Masala. Ein direktes Eingreifen in Afghanistan mit größeren Truppen schließt er aus. Es werde zu einer Intensivierung dessen kommen, was schon 2020 zu beobachten war: eine geheimdienstliche Kooperation mit den Taliban um "noch entschlossener gegen den IS in Afghanistan vorzugehen".
Welche Rolle wird Deutschland bei Vergeltungsaktionen spielen?
Deutschland verfügt laut Masala indes nur begrenzt über die nötigen Mittel, um die USA bei anstehenden Aktionen gegen den IS zu unterstützen. Er sagte aber, er würde es begrüßen, wenn Deutschland den USA helfen würde, wo es das könne.
US-Experte Braml betont, die nächste Bundesregierung werde neue Strukturen schaffen müssen, um Deutschlands Außen- und Sicherheitspolitik zu verbessern. Er nennt unter anderem einen Nationalen Sicherheitsrat.
Nach jüngsten Angaben aus den USA hatte sich am Donnerstag ein Selbstmordattentäter vor dem Flughafen in Kabul in die Luft gesprengt. Zuvor war von mindestens zwei Selbstmordattentätern die Rede gewesen. US-General Hank Taylor begründete die Falschinformation am Freitag im US-Verteidigungsministerium mit "Verwirrung" angesichts der "sehr dynamischen Ereignisse".
Ernsthaft? Kaum waren die ersten Meldungen von der Flucht des syrischen Machthabers Baschar al-Assad zu lesen, waren sie schon da: Die Forderungen nach einer Veränderung der Asylpolitik bei Syrer:innen in Deutschland.