18,5 Prozent der Menschen, die in Deutschland leben, waren im Jahr 2020 armutsgefährdet. Das ist das Ergebnis einer Auswertung des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2021. Neuere Daten gibt es dort nicht. Und doch ist klar, dass die aktuelle Inflation noch mehr Menschen in die Armut treibt.
Armutsgefährdung, das bedeutet, weniger Geld als den vom Statistischen Bundesamt angegebenen Schwellenwert zur Verfügung zu haben. Beziffert ist der bei Menschen, die allein leben, auf 1.173 Euro im Monat, also 14.076 Euro im Jahr.
Menschen, die Hartz IV beziehen oder im Niedriglohnsektor arbeiten, haben nicht einmal das zur Verfügung. Anfang des Jahres wurde der Hartz-IV-Regelsatz auf 449 Euro angehoben. Drei Euro mehr als noch 2021. Eine Erhöhung, die komplett von der Inflation (knapp acht Prozent) gefressen wird – und nicht annähernd reicht, um die Teuerung auszugleichen.
Aber auch ohne steigende Preise reicht der Regelsatz nicht zum Leben, höchstens zum Überleben. 678 Euro wäre nach Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes der Regelsatz, der ein menschenwürdiges Leben ermöglichen würde.
Auch zur Jahreswende hat es schon eine Inflationswelle gegeben: Lebensmittel sind während der Corona-Pandemie teurer geworden, auch die Energiepreise steigen schon seit Beginn des Jahres. Schon im Januar habe es die Bundesregierung aus Sicht von Christoph Butterwegge versäumt, die Kostensteigerungen für Menschen in Armut auszugleichen. Butterwegge ist Politikwissenschaftler, sein Forschungsschwerpunkt: Armut.
Im Gespräch mit watson sagt er:
Aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales heißt es auf watson-Anfrage, dass "der Gesetzgeber auf die Preissteigerungen auch in diesem Jahr reagiert". In den Entlastungspaketen der Bundesregierung sei eine Einmalzahlung in Höhe von 200 Euro für erwachsene Leistungsempfänger enthalten. Ab Juli würde zudem das Kindergeld um 20 Euro erhöht und es gebe einen Familienbonus in Höhe von 100 Euro. "Für eine vierköpfige Familie mit zwei Kindern im SGB-II-Bezug bedeutet dies beispielsweise eine Einmalzahlung von 600 Euro", fasst es eine Sprecherin des Ministeriums zusammen.
Natürlich würden die Entlastungspakete Menschen in Armut helfen, meint Butterwegge. Gerade im Neun-Euro-Ticket sieht er eine echte Verbesserung. Arme Menschen seien mobiler geworden – vorher seien sie das kaum gewesen. Die Idee Baden-Württembergs dagegen, Familien, deren Kinder vom Neun-Euro-Ticket profitierten, das Arbeitslosengeld II (Hartz IV) zu verringern, nennt der Armutsforscher eine Zumutung sondergleichen. Denn selbstverständlich müssten gerade Menschen entlastet werden, die ohnehin wenig haben.
Butterwegge sagt aber auch:
Was mehr helfen würde, gegen die Armut: Ein Anheben der Regelsätze.
Viel Hoffnung setzt Butterwegge in diesem Fall auch nicht in das Bürgergeld, das die Ampel-Koalition im kommenden Jahr einführen will. Denn bisher gebe es keine Hinweise darauf, dass der Betrag angehoben würde. Lediglich klar ist, dass die ersten beiden Jahren weniger streng sind, was das eigene Vermögen angeht.
Butterwegge sagt dazu:
Nach seiner Definition erfüllt Deutschland die Kriterien eines Sozialstaates nicht mehr. Denn ein Sozialstaat müsse nicht nur jene Menschen absichern, die es selbst nicht können. Sondern er müsse auch dafür Sorge tragen, dass sich die Kluft zwischen Arm und Reich nicht vertiefe. Genau das passiere in Deutschland aber, ohne dass die Ampel-Regierung gegensteuere. Denn im Koalitionsvertrag sei festgeschrieben, dass keine Steuern erhöht werden. "Dabei steht die Vermögenssteuer im Grundgesetz und wurde von der Regierung Kohl 1997 nur ausgesetzt, nicht abgeschafft", sagt Butterwegge.
Was es beutetet, von Armut betroffen zu sein, darüber berichten Betroffene unter dem Hashtag #IchbinArmutsbetroffen auf Twitter. Sie teilen dort ihre Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen. Ihre Sorgen und ihre Wut. Etliche Tweets und Threads wurden mittlerweile seit Anfang Mai unter diesem Hashtag veröffentlicht.
Was sich die Betroffenen erhoffen: Sichtbarkeit. Gemeinsamkeit. Solidarität. Veränderung.
Aus Sicht des Armutsforschers Christoph Butterwegge könnte dies ein erster Schritt hin zu einer Bewegung sein, die politisch etwas verändern kann. Er sagt:
Was daraus entstehen könne, sei eine gemeinsame Bewegung. Getragen nicht nur von den Armutsbetroffenen selbst, sondern auch von Menschen, die eine größere Sensibilität für soziale Ungleichheit entwickelten und Solidarität mit ihnen zeigten. Am Ende müsse politischer Druck aufgebaut werden. Dann könnte sich tatsächlich etwas an den bestehenden Verhältnissen verändern.
Einen ersten Schritt hin zur sozialen Bewegung gibt es bereits: Die Stiftung "OneWorryLess Foundation", die ebenfalls auf Twitter unter #EineSorgeWeniger aktiv ist, organisiert Flashmobs. "Wir wollen jetzt im zweiwöchigen Turnus die Menschen auf die Straße bringen", sagt Natalie Schöttler im Gespräch mit watson. Die nächste Aktion ist am letzten Juni-Wochenende geplant.
Natalie Schöttler hat die Stiftung gemeinsam mit Konstantin Seefeldt und Mona Schiller bereits im Jahr 2018 gegründet. Vorranging nicht, um öffentliche Demonstrationen zu organisieren, sondern um zu helfen. Per Twitter wollen sie Menschen verbinden und unterstützen.
Was Seefeldt und Schöttler beobachten können: Die Not wächst.
2020 hätte die OneWorryLess Foundation mit rund 1000 Euro pro Monat unterstützt. "Im Vergleich zum vergangenen Jahr hat sich sowohl die Anzahl als auch der individuelle Bedarf der Hilfesuchenden bis Ende März auf 4000 Euro im Monat vervierfacht", sagt Schöttler. Und fährt fort: "Die Auswertung des noch laufenden Quartals zeigt aber auch klar einen weiteren Anstieg."
Was ebenfalls auffalle: Statt um größere Dinge, die eben ab und an kaputt gingen und ersetzt werden müssten, gehe es jetzt vor allem um existenzielle Nöte. Was das heißt, führt Konstantin Seefeldt so aus:
Die Stiftung OneWorryLess Foundation unterstützt die Menschen nicht mit Bargeld, sondern mit Einkaufsgutscheinen. Finanziert von Menschen, die helfen wollen, spenden. Es gibt aber Wunschlisten, die die Stiftung auf Amazon zusammenstellt, auch hier können Spendende Produkte kaufen und diese werden dann direkt dorthin geschickt, wo sie gebraucht werden.
Wichtig sei aber, meint Seefeldt, dass sich die Gesellschaft weiter entwickelt: Weg von Wohltätigkeit und hin zu Solidarität. Spenden allein reiche nicht, wichtiger sei es, dass Menschen bereit sind, etwas zu verändern. Zum Beispiel einen Sozialstaat zu schaffen, der finanziert wird aus höheren Steuern – vor allem für Reiche oder Erben. "Almosen haben nichts mit einem Leben in Würde zu tun", sagt Seefeldt.
Die Demonstrationen sollen hier einen ersten Schritt machen. Schöttler sagt:
Um den Klassismus, der in Deutschland nach wie vor herrscht, zu überwinden, braucht es aus Sicht von Seefeldt und Schöttler erst einmal die Einsicht, dass es überhaupt Klassen gibt. Ziel müsse sein, dass klassistische Äußerungen – also die Abwertung armer Menschen – gesellschaftlich ähnlich geächtet würden, wie rassistische oder frauenverachtende Äußerungen.
Seefeldt fasst zusammen: