Bomben, Zerstörung, Tod: Vor allem Kinder im Gazastreifen leiden unter dem Krieg. Bild: AP / Jehad Alshrafi
Analyse
Die Menschen im Gazastreifen erleben aktuell eine humanitäre Krise beispiellosen Ausmaßes. Und sie spitzt sich weiter zu. Jahrzehnte der Gewalt und Entbehrung haben die Bevölkerung bereits stark getroffen, doch die militärische Antwort Israels auf den Angriff der Hamas lässt die Lage seit Oktober weiter eskalieren. Die Erzählungen der Menschen aus der Enklave zeichnen ein Bild, das einer Hölle auf Erden gleicht.
Gleichzeitig scheint die Hoffnung auf Frieden weiter in die Ferne zu rücken. Die Spannungen nehmen zu, breiten sich aktuell auf weitere Akteure aus. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu jedenfalls verfolgt eigene Ziele, wie ein Experte verdeutlicht. Dennoch gibt es auch positive Zeichen. Doch wie ist die Situation vor Ort wirklich? Und was braucht es, damit zumindest teilweise Frieden entstehen kann? Ein Überblick.
Konfliktforscher zu Lage in Nahost: Warten auf eine Reaktion des Iran
Die Bilder aus dem Gazastreifen sprechen Bände: Zerstörte Gebäude, so weit das Auge reicht. Verletzte, Tote, verzweifelte Kinder und Erwachsene. Notdürftig errichtete Behausungen aus Müll, Krankheiten und ständige Todesangst.
Arbeiter tragen eine von Israel zurückgebrachte Leiche zu einem Friedhof in Khan Younis im Gazastreifen.Bild: AP / Abdel Kareem Hana
Das Leben vieler Menschen in der Enklave hängt am seidenen Faden, dementsprechend groß ist die Hoffnung auf eine politische Entspannung. Das selbsterklärte Ziel, die im Gazastreifen regierende Hamas auszulöschen, erntet zunehmend internationale Kritik. Denn die Situation ist für die Zivilbevölkerung untragbar. Ein Waffenstillstand muss dringend her, so die Forderung.
Doch wie wahrscheinlich ist eine Beruhigung der Lage?
Thorsten Bonacker, Konflikt- und Friedensforscher, hebt den Iran als einen der entscheidenden Faktoren dafür hervor, ob die Lage nun weiter eskaliert. An dieser Front stehen derzeit die Zeichen jedenfalls auf Eskalation: Der Iran und seine Verbündeten in der Region haben angekündigt, Israel für die Tötung des Hamas-Auslandschefs Ismail Hanija in Teheran und des Hisbollah-Kommandeurs Fuad Schukr in Beirut vergangene Woche zu bestrafen – es könnte also jederzeit neue Gewalt ausbrechen.
"Viel hängt sicherlich davon ab, wie die iranische Führung inklusive des neuen Ministerpräsidenten (Massud Peseschkian) die eigenen Interessen definiert", sagt er auf Anfrage von watson. Damit bezieht sich der Experte darauf, ob die iranische Führung beispielsweise auf die Abschwächung der Sanktionen hinwirken wolle. "Die Zulassung von Peseschkian konnte als ein solches Zeichen verstanden werden."
Das Ausmaß der zu erwartenden Reaktion auf die Tötung Hanijas werde zeigen, wie Iran sich hier positioniert.
Abzuwarten bleibt dem Experten zufolge auch, wie sich die rivalisierenden Palästinensergruppen verhalten. "Der innerpalästinensische Konflikt hat es in der Vergangenheit jedenfalls nicht leichter gemacht", sagt er dazu. Die Hamas werde keine Rolle in einer Nachkriegsordnung im Gazastreifen spielen. "Aber für eine Friedensordnung ist es sicherlich von Vorteil, wenn die Palästinenser mit einer Stimme sprechen", sagt der Experte. Allerdings nur, wenn die Palästinensergruppen an Verhandlungen mit Israel interessiert sind.
Israel: Innenpolitische Spannungen um Netanjahu nehmen zu
Doch auch die israelische Seite ist entscheidend für den weiteren Verlauf der Konflikte in Nahost. Laut Berichten israelischer Medien gibt es erhebliche Spannungen zwischen Netanjahu, dem Armeechef sowie den Leitern der Inlands- und Auslandsgeheimdienste, berichtet das ZDF. Ein großer Teil des Sicherheitsapparats fordere demnach, "das aktuelle Momentum zu nutzen und endlich eine Vereinbarung mit der Hamas über die Freilassung der Geiseln zu treffen".
Netanjahu zögere Entscheidungen hinaus, so die Kritik. "Auf israelischer Seite schwindet das Vertrauen in den Ministerpräsidenten täglich. Ein Problem dabei ist, dass Netanjahus politisches Überleben eng mit der Eskalation des Konflikts verbunden ist. Und so verhält er sich auch", sagt Bonacker.
Netanjahu verfolgt eigene politische Ziele.Bild: AP / Jose Luis Magana
Einer der größten Kritiker des Staatsoberhauptes ist Verteidigungsminister Joav Galant. Er bezieht sich auf die Zeit nach einem Krieg in Gaza und fordert, dass Netanjahu eine Debatte im Kabinett über einen Nachkriegsplan zulassen sollte. Bisher ohne Erfolg.
Bonacker bewertet diese innenpolitischen Bestrebungen Netanjahus so:
"Dass es sogar innerhalb des Sicherheitsapparates offenbar laute Kritik an seiner Strategie und den Zielen gibt, zeugt davon, dass es Netanjahu nicht nur um Israels Sicherheit geht, sondern auch um innenpolitische Manöver und Machterhalt."
Für die Menschen im Gazastreifen aber geht es um ihre Existenz.
Arzt vor Ort: Gaza ist "das Schlimmste", was er je gesehen hat
Jede Stunde kommen in Gaza durchschnittlich 15 Menschen ums Leben – sechs davon sind Kinder, 35 Menschen werden in diesem Zeitpunkt verletzt, 42 Bomben werden abgeworfen, 12 Gebäude werden zerstört, wie eine Grafik von "Al Jazeera" zeigt.
Verschiedenste Berichte verdeutlichen, wie dramatisch die Situation für die Bevölkerung wirklich ist. Salma Altaweel, Support Managerin des Norwegian Refugee Council (NRC) in Gaza-Stadt, sagte in einer Mitteilung bereits vergangene Woche: "Es gibt nichts mehr, das dem Leben ähnelt, im Norden Gazas. Alle Krankenhäuser wurden entweder beschädigt oder zerstört."
Ein Zelt in Gaza aus leeren Reissäcken, die die Familie zusammengenäht und zu ihrem Zuhause gemacht hat.Bild: NRC/ Maysa Saleh
Hassan Morajea ist regionaler Berater für den Zugang zu humanitärer Hilfe beim Norwegian Refugee Council (NRC). Auch er zeichnet in einer Mitteilung vom Dienstag eine erschütternde Realität von der Situation aus dem Herzen des Gazastreifens, genauer in Deir al-Balah: "Die Menschen leben in einem ständigen Zustand der Unvorhersehbarkeit, ohne zu wissen, was als Nächstes kommt – ob weitere Vertreibungen, Umsiedlungen oder eine regionale Eskalation."
Familien sind innerhalb des Gazastreifens ständig auf der Flucht.Bild: Amjad Al Fayoumi / NRC
Diese Unsicherheit erzeuge eine enorme emotionale und psychologische Belastung für die Bevölkerung. Auch, und vor allem für Kinder.
Oder, wie Unicef es in einer Mitteilung in Worte fasst:
"Nach den schrecklichen Angriffen auf Israel und den folgenden Bombardierungen des Gazastreifens gibt es mittlerweile kaum noch ein Kind in Israel und in Gaza, das keinen körperlichen oder psychischen Schaden nimmt. Dabei tragen die Kinder keinerlei Verantwortung für die Situation."
Dazu kommen weitere existenzielle Probleme wie Hunger, der Mangel an sauberem Wasser, Behausungen und medizinische Versorgung.
Humanitäre Nichtregierungsorganisationen (NGOs) berichten, dass Israels systematische Behinderung von Hilfsmaßnahmen und die fortgesetzten Angriffe auf Hilfseinrichtungen und Personal die wirksame Lieferung von Hilfsgütern verhindern. "Aufgrund israelischer Beschränkungen und des Zusammenbruchs der öffentlichen Ordnung hat NRC seit dem 3. Mai keine Hilfe mehr in seinem Lager erhalten", schreibt NRC.
96 Prozent der Menschen sind zudem von akuter Unterernährung bedroht, wie ein aktueller Bericht der Integrated Food Security Phase Classification (IPC) aufzeigt. Der Arzt Dr. John Kahler, der vor Ort im Einsatz ist, erzählte im Gespräch mit der "Zeit": "Gaza ist das Schlimmste, was ich in meiner 25-jährigen Laufbahn als Arzt gesehen habe. Im Sudan und in Syrien sind die absoluten Zahlen Hungerleidender größer. Aber das Ausmaß des Hungers innerhalb der Bevölkerung in Gaza ist beispiellos."
Kinder tragen keinerlei Verantwortung für den Krieg, leiden mitunter aber am meisten.Bild: AP / Abdel Kareem Hana
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sagte kürzlich, Gespräche über einen Waffenstillstand und eine nachhaltige Friedenslösung müssten "im breiten Kontext der internationalen Gemeinschaft und vor allem mit Blick auf die regionalen Partner passieren". Und: "Der allererste Schritt wäre, dass die Hamas endlich alle Geiseln freilässt und den Terror einstellt und sich hinter den Biden-Plan stellt", sagte sie der AFP.
Ärzte der Welt fordert angesichts der humanitären Katastrophe dringend die Öffnung aller Grenzübergänge für Hilfsgüter und humanitäres Personal sowie einen sofortigen Waffenstillstand. Letztlich hängt es wie bei allen Kriegen dieser Welt von den politischen Entscheidern ab.