Zimtschnecke und Kaffee in Berlin-Mitte. Zwei Menschen, eine kleine Stofffahne, die aus dem Rucksack ragt. Sie ist grün. "Klimaliste" steht auf dem Stück Stoff. Die beiden Menschen wollen für die im vergangenen Jahr gegründete Partei ins Berliner Abgeordnetenhaus. Alicia Hinon und Antonio Rohrßen heißen sie.
Sie sitzen draußen, es ist kühl. Menschen laufen vorbei, der Seitenstraßenverkehr hinterlässt ein sanftes, konstantes Rauschen in den Ohren. Das Grau des Betons spiegelt sich im Himmel wider. Ganz leicht zieht der Wind durch die blonden Haare der Spitzendkandidatin Alicia Hinon. Wenn sie spricht, ist eine Augenbraue meist nach oben gezogen, die Augen sind verengt. Mit ihrer tiefen, festen Stimme erklärt sie das Programm der Klimaliste.
Kurz gesagt: Die Partei hat sich einer Zahl verschrieben: 1,5. Das 1,5-Grad-Ziel soll zum Zentrum allen politischen Handelns werden: das Ziel also, die Erderhitzung auf höchstens 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen. Die Staaten der Erde haben es sich selbst auferlegt, als sie im Jahr 2015 das Pariser Klimaschutzabkommen unterzeichneten.
Die Mitglieder der Klimaliste wollen dieses Ziel radikal durchsetzen. "Wir sind eine Partei, die aus dem Aktivismus heraus entstanden ist", erzählt Rohrßen. Er trinkt einen Schluck Kaffee und erzählt von Fridays for Future und der noch radikaleren Gruppe Extinction Rebellion. Er spricht von "friedlicher Sabotage", von "zivilem Ungehorsam". Seine Augen werden immer größer, während er redet. Will er einem bestimmten Wort Nachdruck verleihen, ist es fast, als stächen sie noch einmal mehr hervor.
Das Gespräch dreht sich um Winfried Kretschmann, die Grünen und die Frage, warum sich der Ministerpräsident von Baden-Württemberg im März dieses Jahres so sehr über die Klimaliste aufregte, dass man fast schon Angst um seinen Blutdruck haben musste. Bei den Landtagswahlen im Frühling stellte die Klimaliste das erste Mal Kandidatinnen und Kandidaten auf. Kretschmann echauffierte sich darüber. "Das ist eine ernste Angelegenheit", hatte er im Wahlkampf gesagt. "Es kann gravierende Folgen haben – zum Beispiel, dass es nicht für eine Regierung reicht, weil es sich zersplittert."
"Winfried Kretschmann hat sich zu Recht aufgeregt", sagt Hinon mit einem ironischen Unterton. Sie grinst. Streicht sich die Haare hinters Ohr, als wolle sie damit verdeutlichen: So, jetzt aber mal im Ernst: "Das Argument der Grünen ist und war, wir nähmen ihnen die Wähler:innen weg – und verhinderten so Klimaschutz."
Auch Rohrßen packt seine Ironie aus: "Ja, stimmt ja auch. Wir sind quasi hingegangen und haben ihnen die Wähler:innen vor der Nase weggenommen – als die Leute in der Wahlkabine gerade ihr Kreuz bei den Grünen machen wollten."
Die Klimaliste Berlin habe in der Hauptstadt eine eigene Befragung durchgeführt, erklärt Rohrßen. Man habe wissen wollen, woher die Stimmen tatsächlich kommen. "Und die meisten Leute, die uns wählen, wählten entweder vorher nicht, oder sie kommen von anderen Kleinparteien", sagt er.
Eine einfache Rechnung zeigt allerdings: Selbst wenn die Klimaliste keine bisherigen Wählerinnen und Wähler der Grünen umstimmt, schadet sie den Grünen. Ein Beispiel: Wenn von 100 Menschen 20 die Grünen wählen, haben sie 20 Prozent der Stimmen. Kommen nun 10 Menschen dazu, die dann aber die Klimaliste wählen, haben die Grünen eben nur noch 18 Prozent erreicht. Und das, ohne einen einzigen Wähler verloren zu haben.
"Man sollte aber insgesamt mal festhalten, dass wir einen Wähler-Typus abholen, der sonst von keiner Partei in irgendeiner Form angesprochen wird", sagt Hinon. "Wir stehen für eine Politik des 21. Jahrhunderts, wofür Kretschmann eindeutig nicht steht."
Viele Menschen, die sich strengeren Klimaschutz wünschen, seien unzufrieden mit der grünen Politik, sagt sie. "Und dann davon auszugehen, nur wenn die Klimaliste nicht existiert hätte, wären sie stärker gewesen – es ist ein bisschen naiv, so zu denken."
Aber was soll das jetzt konkret bedeuten? Warum glaubt die Partei, so viel besser als die anderen zu sein? "Bisher funktioniert Politik so: Die Wissenschaft erzählt, was nötig ist, und dann sagt die Politik: Puh, das kann man den Leuten in dieser Härte nicht sagen", sagt Hinon. Man dürfe aber die Menschen nicht in Watte packen. Man müsse die wissenschaftlichen Erkenntnisse klar auf den Tisch legen. Debatten auf Grundlage der tatsächlichen Krise führen.
Ähnliches hat Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauer in einer Sendung von ZDF-Talkshowmoderator Markus Lanz gesagt. In einer Diskussion mit SPD-Vize Kevin Kühnert erklärte sie, es sei doch klar, dass man keine Mehrheiten für konkreten und radikalen Klimaschutz bekommen könne, wenn man auf Grundlage falscher Informationen diskutiere.
"Wir sind realistisch, ehrlich", sagt Rohrßen. "Und wir haben einen Plan." Und der wäre? Bei dieser Frage holt Hinon weit aus. Aktivistinnen und Aktivisten werde oft nachgesagt, keine Forderungen zu haben. Und wenn sie welche hätten, hieße es, diese Forderungen gingen komplett an der Realität vorbei. Doch sie sei Ökonomin, habe selbst schon Unternehmen gegründet, lehre Entrepreneurship an einer Uni. "So etwas will ich mir nicht nachsagen lassen."
Also habe man sich zusammengesetzt und gesagt: Wir schreiben jetzt einen Klimaplan. "Und das ist eben das, was alle anderen Parteien nicht haben. Wir geben konkrete Maßnahmen vor, was gemacht werden muss, damit Berlin bis 2030 klimaneutral ist. Und daraus entwickeln sich dann die Forderungen. Daraus ergaben sich 500 konkrete Maßnahmen aus ganz unterschiedlichen Bereichen", sagt Hinon. Nachzulesen sind diese Forderungen im Klimaplan der Partei. "Die anderen Parteien", sagt Hinon, "bauen Wolkenschlösser."
Rohrßen erklärt die Herangehensweise der Klimaliste. Schritt für Schritt. Es gebe Zahlen, die die Wissenschaft vorgibt. "Das ist unser Budget, so viel dürfen wir nur noch emittieren." Dann müsse man schauen: Okay, wie ist der jetzige Stand? Wie viel wird heute in welchen Sektoren ausgestoßen? "Und dann musst du natürlich schauen: Was sind denn alles für Maßnahmen notwendig, um dahin zu kommen? Und was müssen wir heute auch schon entscheiden, damit das in zehn Jahren eine Wirkung hat?"
Die Politik will die Partei insgesamt revolutionieren. Mehr Mitbestimmung. Mehr Macht für das Volk sozusagen. Erst einmal auf lokaler Ebene. "Bürger:innenräte werden auf Landes- sowie Bezirksebene als fester Bestandteil der Berliner Politik etabliert", so steht es im Programm der Partei.
Laut Rohrßen sollen diese Räte ausgelost werden. "Und wir freuen uns, wenn sie ja vielleicht bessere Ideen haben als wir." Er meint damit: Man habe Hunderte Maßnahmen aufgeschrieben. Aber die seien ja nicht gesetzt. "Wenn diese Bürger:innenräte andere, bessere Ideen haben, dann sind wir total fein damit."
Hat die Klimaliste denn auch andere Themen als den Klimaschutz? Schließlich gibt es Bereiche wie Außenpolitik (zumindest im Bundestag), innere Sicherheit, Rente und viele mehr.
"Ich sage es mal so: Klimaschutz ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Klimaschutz", sagt Hinon. "Schauen wir mal in unseren Klimaplan rein: Da geht es um Bereiche wie Energie, Bauen, Stadtentwicklung, Ökonomie, Gesundheit, Bildung, Wirtschaft, Partizipation, Arbeit. Es ist alles dabei. Es geht darum, wie wir als Menschen in der Balance mit diesem Planeten weiterexistieren wollen."