Gefesselte Menschen, Folterinstrumente, Verzweiflung und Gewalt: Die jüngst veröffentlichten "Xinjiang Police Files" zeigen erstmals, wie es in den staatlichen Internierungslagern in China wirklich zugeht. Der größte Datenleak seiner Art beinhaltet neben Fotos aus dem Inneren der Lager auch Informationen über etwa 300.000 Chinesen – der größte Teil von ihnen gehört den Uiguren an.
Bereits seit Jahren gibt es immer wieder Spekulationen darüber, dass die ethnische Minderheit von der chinesischen Regierung unterdrückt wird – die nun veröffentlichten Datensätze lassen daran kaum noch einen Zweifel offen. Die Frage ist, was Deutschland, Europa und die Weltgemeinschaft mit diesen handfesten Informationen machen.
Die Idee, die Weltpolitik von China abzukoppeln, steht zwar schon länger im Raum – gewinnt durch die jüngsten Ereignisse aber immer mehr Fürsprecher. Der Ukraine-Krieg hat Deutschland und anderen europäischen Ländern schmerzlich gezeigt, welche Folgen eine zu starke Abhängigkeit von einem Land – in diesem Fall von Russland – im Ernstfall für den eigenen politischen Spielraum haben kann.
Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sagte dem "Spiegel" dazu: "Wir diversifizieren uns stärker und verringern unsere Abhängigkeiten auch von China." Es müsse angesichts der "Xinjiang Police Files" nun "international eine klare Antwort geben".
Und Robert Habeck ist nicht der einzige Politiker, der ein Umdenken in der China-Politik fordert. Dass sich der deutsche China-Kurs ändern muss, ist fast Konsens im Bundestag. Und darüber hinaus in vielen anderen Ländern auch. "Die NATO hat kürzlich auf ihrem Gipfeltreffen klargemacht, dass sie neben Russland auch China als systemische Herausforderung sieht", sagt Claudia Wessling, Leiterin Kommunikation und Publikationen vom Mercator Institute for China Studies (MERICS) im Gespräch mit watson.
Deshalb arbeite die Organisation derzeit an einer China-Strategie. Dafür müssen die Nato-Staaten laut Wessling einen gemeinsamen Kurs zu vielen Fragen finden. Zum Beispiel "Chinas wachsendem Machtanspruch in strategisch wichtigen Regionen – im Pazifik, der Arktis oder in Ländern des globalen Südens, in Afrika und Lateinamerika".
Der wachsende Machtanspruch von China ist der Knackpunkt, der vielen Staatschefs aus dem globalen Westen Sorge bereitet. Dabei ist die zunehmende Autorität des Landes auf der Weltbühne laut China-Experte Frank Sieren keine überraschende Entwicklung. Der Journalist und Autor lebt seit 1994 in Peking.
Sieren sagt zu watson:
Wessling vom MERICS führt aus:
Mittlerweile beläuft sich Chinas Anteil an der Weltwirtschaft auf 18 Prozent – Tendenz steigend.
Auch Deutschland pflegt intensive wirtschaftliche Beziehungen zu dem asiatischen Land. Im Jahr 2021 war China das sechste Jahr in Folge der wichtigste Handelspartner. Was das laut Sieren konkret bedeutet: "Alles, was wir hier benutzen, wird in China produziert – vom iPhone bis zu FlipFlops. Und zwar in einer Mischung aus Qualität und Preis, die weltweit meist einzigartig ist." Er ist deshalb davon überzeugt, dass eine wirtschaftliche Isolation von China ein Fehler wäre.
Neben der Tatsache, dass dann zahlreiche Produkte deutlich teurer werden würden, nennt er ein weiteres Argument für das Festhalten an der deutschen Handelspartnerschaft mit China: "Den Klimawandel. Ohne China brauchen wir damit in Deutschland oder EU eigentlich gar nicht anzufangen. Erfolgreich sind wir, wenn ein so großes Land mitzieht." China sei bereits jetzt Weltmeister beim Ausbau von Solar-, Wind- oder Wasserenergie.
Aber: "Das darf nicht bedeuten, dass Kritik nicht mehr möglich ist. Wir müssen weiter die schwierigen Themen ansprechen und für unsere eigenen Werte werben, auch wenn es nicht einfacher wird", sagt Sieren.
Dabei sei es wichtig, das Land nicht nur in gut oder schlecht zu kategorisieren. Es müsse vielmehr differenziert auf China geblickt werden. Schließlich leben dort 1,4 Milliarden Menschen. China sei ähnlich zu betrachten, wie die Vereinigten Staaten.
Sieren sagt:
Zugegeben: Der westliche Blick auf China zeigt meistens nur kopfschüttelnd die vielen Probleme des Landes auf. In den Medien ist oftmals die Rede von einem streng kontrollierten Leben, Menschenrechtsverletzungen und fragwürdigen Wirtschaftsaktivitäten.
Und auch das gehört zur Realität, wie Wessling vom MERICS im Gespräch mit watson sagt:
Es sei zu erwarten, dass der wirtschaftliche Druck durch die Corona-Pandemie dazu führe, dass die digitale Überwachung und Zensur im Land weiter zunehmen.
Aber zur Lebensrealität der Menschen in China gehört eben auch, dass es im Land immer mehr Freiheiten gibt. Und sich die Menschen nach mehr Mitspracherecht sehnen, für das sie sich aktiv einsetzen und im chinesischen Silicon Valley im Süden des Landes an Tech-Innovationen arbeiten.
Frank Sieren ist sich sicher: Das Konzept "Wandel durch Handel" ist in China nicht gescheitert. Damit widerspricht der Experte bewusst zahlreichen westlichen Beobachtern. Er beobachtet die westliche Orientierung in vielen Teilen Chinas bereits seit Jahren. Trotzdem müsse jedem westlichen Land auch klar sein: "Natürlich wird eine chinesische Demokratie am Ende nicht so aussehen können, wie eine deutsche Demokratie. 1,4 Milliarden Menschen muss man anders organisieren, als 80 Millionen."
Bleibt die Frage, wie Deutschland, Europa und die USA in Zukunft mit der chinesischen Form der Demokratie und all ihren Tücken umgehen werden. Sollte die Abkopplung Chinas von der Weltpolitik – und damit auch von der Weltwirtschaft – tatsächlich zum öffentlichen Ziel erklärt werden, dann hätte das auch weitreichende Folgen für den Westen.
"Wir würden uns vom größten Wachstumsmarkt der Welt ausschließen, ohne gleichwertige Alternative. Deutsche Unternehmen wie zum Beispiel Volkswagen, die fast die Hälfte ihres Gewinnes in China erzielen, würde es sehr hart treffen", sagt Sieren. Die Folge: Steigende Preise, mehr Arbeitslosigkeit und eine zunehmende Inflation. "Eine Partei, die das vorschlägt, wird Probleme kriegen, demokratische Wahlen zu gewinnen."
Allerdings sieht nicht jeder die Lage so wie Sieren. Jörg Wuttke, Präsident der Europäischen Handelskammer in China, sagte im Interview mit der Deutschen Welle: "Wir exportieren täglich Güter für 600 Millionen Euro nach China; die Chinesen exportieren pro Tag für 1,3 Milliarden Euro nach Europa." Daher sei China mindestens genauso abhängig vom europäischen Markt, wie umgekehrt. Allerdings halte auch er ein "Nein" zur Handelspartnerschaft mit China für wirtschaftlich unklug – und stellt eine Frage in den Raum: "Sollen wir unsere Fabriken zumachen?"
Deutschland ist im Übrigen in guter Gesellschaft, wenn es um wirtschaftliche Abhängigkeit zu China geht. Denn laut MERICS ist China auch der wichtigste Handelspartner der USA. Die US-Regierung unter Präsident Joe Biden hat allerdings bereits Konsequenzen daraus gezogen, wie Wessling ausführt:
Auch die US-Digitalbranche profitierte bislang von Kooperationen mit Chinas dynamischem Tech-Sektor, etwa im Bereich Künstliche Intelligenz. Ein Abbruch dieser Kontakte dürfte auf beiden Seiten Innovation hemmen.
Die wirtschaftlichen Bande zwischen China und dem Westen machen also – trotz politischer Spannungen – den Anschein, als seien sie eng geknüpft. Und der Machtanspruch des chinesischen Präsidenten Xi Jinping wächst weiter. Fakt ist, dass sich etwas im Umgang mit autoritären Staaten wie Russland und China ändern muss. Aber wie, dafür ist der richtige Weg noch nicht in Sicht.
Sieren sieht die Sache so: