Die See tobt. Menschen hocken dicht aneinander auf einem Boot. Wellen brechen über ihren Köpfen ein. Das Salz brennt in den Augen. Die Angst, vom Wasser mitgerissen zu werden, lässt sie aufschreien. Die Strömung ist zu stark. Für viele endet die Reise in den Gewässern vor Europas Küste.
Sie betreten nie wieder Land. Das Meer spült ihre Körper mit der Zeit an den Strand. So wie im Februar vor der Küste von Steccato di Cutro in Italien. Ein Boot mit Migrant:innen aus dem Iran, aus Afghanistan und Pakistan zerbarst offenbar an Felsen kurz vor dem Ziel.
Etwa 60 Leichen schwemmte das Meer ans Land – darunter viele Kinder, auch ein Baby. Trotz der Todesgefahr begeben sich wieder mehr Menschen auf die gefährliche Route durch das Mittelmeer. Auf der Suche nach Asyl.
Währenddessen ist die Asylpolitik ein Reizthema in Europa.
Viele fordern einen härteren Kurs – mehr Zäune und schnellere Abschiebungen. Eine Entwicklung, die dem Grünen-Politiker Erik Marquardt sauer aufstößt. "Momentan läuft wenig gut in der EU-Asylpolitik", sagt er im Gespräch mit watson.
Als Mitglied des Europäischen Parlaments beobachtet er den Abschottungskurs der EU mit Sorgen. "Die Lage für Schutzsuchende in Europa wird immer riskanter und menschenunwürdiger", meint Marquardt.
Auch sein Parteikollege Anton Hofreiter übt Kritik an der aktuellen EU-Asylpolitik. "Sie ist dysfunktional, unsolidarisch und unmenschlich", sagt er auf watson-Anfrage. Den Abschottungsfantasien nachzugeben führe nicht zu weniger Migration, sondern tödlicheren Fluchtwegen.
Von Januar bis März 2023 starben so viele Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer wie seit 2017 nicht mehr. Das geht aus einem Bericht der "Internationalen Organisation für Migration" hervor. Laut der UN-Behörde wurden im ersten Quartal dieses Jahres 441 Tote registriert.
Bis zu mehrere Millionen Menschen suchen jährlich Schutz in Europa. Über den Seeweg kommt ein Großteil der Geflüchteten in Spanien, Italien und Griechenland an. Laut Marquardt muss Europa stärker in die Transitländer davor blicken und die Fluchtursachen minimieren. Sprich, mehr Perspektiven vor Ort für die Menschen schaffen – und legale Fluchtwege.
"Stattdessen werden die Menschen an den EU-Außengrenzen von den Mitgliedstaaten so schlecht behandelt, dass sie weiter fliehen müssen” , erklärt er. In Brüssel braut sich offensichtlich ein Kurswechsel in der Migrationspolitik an.
Das Asylsystem soll in der EU neu gestaltet werden. Man setzt in Zukunft offenbar auf abschreckende Maßnahmen, wie etwa auf Asylverfahren direkt an den Außengrenzen, Haftzentren für abgelehnte Asylsuchende und schnelle Rückführungen.
Laut einer Einigung zwischen Mitgliedstaaten und EU-Parlament soll die Reform bis zum Ende der EU-Legislaturperiode abgeschlossen werden. Für Marquardt handle die Ampelregierung hierbei nicht im Einklang mit dem Koalitionsvertrag.
Die derzeitige Entwicklung sei für ihn ein "Großangriff" auf das Asylrecht in Europa, durch den am Ende nicht weniger Menschen kommen, sondern nur mehr Leid entsteht. Hofreiter führt diesen Punkt aus: "Pushbacks und Zäune nützen schlussendlich nur den Schleppern."
Auch Linken-Politikerin Clara Bünger bewertet die Vorschläge der EU-Kommission kritisch. Am 8. Juni steht ihr zufolge im Rat für Justiz und Inneres der EU eine "historische Entscheidung in der Asylpolitik" an.
Diese sei vergleichbar mit der faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl in Deutschland. Für Bünger ist das eine "massive Entrechtung" von Schutzsuchenden in der EU. Auf watson-Anfrage führt sie aus:
Menschen aus sogenannten sicheren Herkunftsländern werden ihr zufolge in einem abgestuften Grenzverfahren schnell zurückgeführt. Auch Schutzsuchende aus Ländern mit hoher Anerkennungsquote, wie etwa Syrien und Afghanistan, können voraussichtlich keine inhaltlichen Verfahren durchlaufen.
Denn: Ohne eine Prüfung des Fluchtgrundes werden sie in einem Zulässigkeitsverfahren an der Grenze in einen vermeintlich sicheren Drittstaat zurückgeführt.
"Das ist eine bittere Realität, die dazu führt, dass das individuelle Recht auf Asyl nicht mehr so existiert, wie es die Genfer Flüchtlingskonvention vorgesehen hat", führt Bünger aus.
Dabei habe die unbürokratische Aufnahme von Millionen Geflüchteten aus der Ukraine in der EU gezeigt, dass eine solidarische Asylpolitik grundsätzlich möglich sei. "Dieser Umgang mit Schutzsuchenden aus der Ukraine sollte Vorbild für den Umgang mit Schutzsuchenden aus allen Ländern sein", betont Bünger.
Dennoch will die EU offenbar einen härteren Kurs einschlagen – und Deutschland springt auf den Zug auf.
Denn die Kommunen sehen mittlerweile Rot. Landräte warnen, die Grenzen der Belastbarkeit seien erreicht. "Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass viele Flüchtlinge nicht einfach in irgendein europäisches Land kommen wollen, sondern vor allem nach Deutschland", erklärt CDU-Politiker Christoph Ploß auf watson-Anfrage.
Ihm zufolge ist es deshalb ein Problem für die ganze EU, dass die Ampelkoalition weitere Anreize für illegale Migration setzt, statt konsequent dagegen vorzugehen. Im europäischen Vergleich weist Deutschland die meisten Asylbewerberzugänge auf.
Laut des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge haben in diesem Jahr (Stand April) vor allem Menschen im Alter von 18 bis 25 Jahre einen Asylantrag gestellt. Auffällig: Auch der Anteil an Kindern unter vier Jahren ist hoch.
Ploß fordert:
Laut einer "Bild"-Umfrage befürworten etwa 68 Prozent der befragten Deutschen eine Obergrenze für die Aufnahme von Geflüchteten in der Bundesrepublik. Die Mehrheit von ihnen wählt die AfD und Union. Jüngst sorgte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) mit seinen Forderungen für Wirbel.
"Wir brauchen stärkere Instrumente und wirksame Abkommen zur Rückführung abgelehnter Asylbewerber und illegaler Einwanderer", sagt er gegenüber "Welt".
Kretschmer will eine Kommission bilden, in der unterschiedliche politische und gesellschaftliche Gruppen vertreten sein sollen. "Diese Kommission erarbeitet einen Vorschlag, hinter dem sich Bund und Länder versammeln können und zu der auch eine Grundgesetzänderung gehören könnte", führt er aus.
Er warnt davor, dass die Zahl der Menschen, die nach Deutschland kommen, "einfach zu groß" sei. Schulen und Kindergärten seien überlastet.
Laut Marquardt fischt Kretschmer mit seiner Agenda am rechten Rand. "Es stimmt, dass Schulen und Kindergärten Unterstützung brauchen. Man muss diese Herausforderungen anpacken, und nicht gegen Geflüchtete oder das Asylrecht hetzen. Dieses Wettrennen mit der AfD um die krassesten Forderungen führt in den rechten Abgrund", meint er.
Auch Hofreiter mahnt:
Außerdem brauche man weiterhin eine funktionierende Seenotrettung, damit das Sterben auf dem Mittelmeer nicht noch weiter zunehme.