Gestern Wirtschafts- und Energiedeals mit Russland, heute Friedensvermittler im Krieg in der Ukraine – der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan springt von einem Verhandlungstisch zum anderen.
Am Donnerstag trafen sich Erdoğan und der UN-Generalsekretär António Guterres mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Lwiw zu Verhandlungsgesprächen.
Bei dem Treffen geht es darum, erste Friedensverhandlungen anzutreiben. Dabei steht auch das Atomkraftwerk (AKW) in Saporischschja im Fokus, das derzeit russische Truppen besetzt halten. Selenskyj forderte am Mittwochabend erneut, dass das russische Militär aus Europas größtem Kernkraftwerk abziehen soll.
Seit einem halben Jahr hält der Krieg in der Ukraine an. Er hat bereits zahlreiche zivile Opfer gekostet und nun befürchten Expert:innen eine nukleare Katastrophe an dem AKW. Dazu verschärft der Krieg die Wirtschafts- und Hungerkrisen weltweit. Man will diplomatische Lösungen finden, um all das zu beenden. Doch Erdoğan fällt seit Jahren dadurch auf, dass er sich mit Autokraten wie Putin gut stellt.
Wie sehr kann Selenskyj dem Friedensvermittler Erdoğan vertrauen? Einem Staatschef, der laut des Nato-Experten Wolfgang Richter eine nationale – und keine rationale – Politik führt?
Diese und weitere Fragen hat watson an Kristian Brakel, den Leiter der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul gestellt.
Vertrauen ist ein großes Wort in der Politik, das weiß auch der politische Analyst Brakel, der für verschiedene Nichtregierungsorganisationen, die Vereinten Nationen und die EU im Nahen Osten sowie in Nordafrika gearbeitet hat.
Würde Selenskyj Brakel als Experte um Rat beten, ob er Erdoğan vertrauen kann, würde seine Antwort lauten: Die Türkei hat ein hohes Interesse daran, dass der Krieg in der Ukraine bald beendet wird. Darin könne sich Selenskyj sicher sein. Denn dieser Krieg übt dem Politikwissenschaftler zufolge wirtschaftlichen Druck auf die ohnehin angeschlagene Türkei aus. Auch sehe die Türkei ihre eigenen außenpolitischen Interessen durch den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands gefährdet.
"Erdoğan stellt sich die Frage, welches andere Land Russland nach der Ukraine angreifen könnte", sagt Brakel gegenüber watson. Dabei käme Kasachstan infrage, wo die Türken ebenfalls starke Interessen verfolgen.
Einen weiteren Grund für Erdoğans Verhandlungen sieht Brakel darin, dass der türkische Präsident sein eigenes Profil mit einer erfolgreichen Friedensvermittlung aufwerten möchte. "Das bedeutet, die Türkei handelt natürlich aus Eigeninteresse, aber da, wo sich die Interessen der Türkei und der Ukraine überschneiden, dort ist eine Zusammenarbeit sinnvoll", erklärt der Experte.
Im Sommer 2023 findet die nächste Präsidentschaftswahl in der Türkei statt. Laut der Umfragewerte des Meinungsforschungsinstituts "MetroPoll Araştırma" vom Juli 2022 würden Erdoğan und seine AKP derzeit keine Mehrheit erhalten und die Wahl verlieren. Der Gründer und Direktor von "MetroPoll Araştırma" Özer Sencar hat dazu die Ergebnisse auf Twitter veröffentlicht:
Laut Brakel profitiert Erdoğan von dem aufgewerteten Image auf internationaler Bühne, aber wahlentscheidend sind andere Themen – wie etwa die Wirtschaftslage und die zunehmend ablehnende Haltung gegen Migrant:innen und Geflüchtete, vor allem aus Syrien. Demnach spielen auch die Angriffspläne der Türkei gegen Nordsyrien für die Wahl eine wichtige Rolle. Erdoğan will die Kurden aus dem Gebiet vertreiben und syrische Geflüchtete ansiedeln.
Bisher gab es keinen Aufschrei und auch kaum Kritik an diesem Vorhaben Erdoğans. Gegenüber dem "BR" sagt der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde Deutschland Ali Ertan Toprak: "Der Westen schweigt, Europa schweigt und auch die neue Bundesregierung, die sich an ihrem Anspruch einer wertegeleiteten Außenpolitik messen lassen muss, schweigt."
Laut Brakel nutzen Erdoğan die Verhandlungen nur dann, wenn er etwas in der Hand gegen Russland hätte. Dadurch könne er Moskaus Zustimmung zu einer türkischen Militäroperation erkaufen. Die braucht er dem Experten zufolge, weil Russland den Luftraum über Nordsyrien kontrolliert. Ohne Putins Zustimmung kann Erdoğan keine militärische Angriffe auf das Gebiet durchführen.
"Wenn Erdoğan im Zuge der Vermittlungen Russland etwas Attraktives anbieten kann, stärkt das seine Position", sagt Brakel. Bisher sehe es aber nicht danach aus. Noch habe Russland die meisten Karten in der Hand am Verhandlungstisch, meint der Politikwissenschaftler.
Dennoch teilen laut Brakel die zwei Staatsmänner Erdoğan und Selenskyj ein Anliegen am Verhandlungstisch: den Frieden in der Ukraine. Ob das eine gute Basis für Vertrauen darstellt – das entscheidet Selenskyj am Ende selbst.