Frauen machen bei einer Demonstration anfang April in London auf die Gräueltaten in Butscha aufmerksam.Bild: ZUMA Press Wire / Vuk Valcic
Analyse
20.04.2022, 09:2408.06.2022, 17:14
Triggerwarnung: Im folgenden Text geht es um sexualisierte Gewalt im Krieg. Die Analyse kann belastend und retraumatisierend sein.
Russische Soldaten vergewaltigen ukrainische Frauen.
Das ist die grausame Wahrheit, die neben den Leichenbergen in den von ukrainischem Militär zurückeroberten Gebieten ans Licht geraten ist. Der russische Präsident Wladimir Putin hat den Peinigern von Butscha mittlerweile den Ehrentitel für "Heldentum" als "Gardebrigade" verliehen.
Wie der paneuropäische Fernsehsender Euronews berichtet, sollen Zeugen aus den zurückeroberten Gebieten von Massenvergewaltigungen, Übergriffen mit vorgehaltener Waffe und Vergewaltigungen vor Kindern berichtet haben. Eine der vergewaltigten Frauen stammt aus Cherson und soll berichtet haben, dass sie zwei russische Soldaten über 13 Stunden missbrauchten.
Die Frauenrechtsorganisation UN Women fordert aufgrund dieser Berichte unabhängige Untersuchungen zu Vorwürfen sexueller Gewalt im Ukraine-Krieg. Auch Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International werfen den russischen Soldaten Kriegsverbrechen vor. Der Internationale Strafgerichtshof hat angekündigt, Ermittlungen einzuleiten.
Auch Hannelore Kohl, die Frau des ehemaligen Kanzlers Helmut Kohl (CDU) wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vergewaltigt.Bild: picture alliance
Tatsächlich sind Vergewaltigungen eines der niederträchtigsten Kriegsverbrechen – aber kein Neues.
Schon im und nach dem Zweiten Weltkrieg häuften sich die Anklagen etlicher Frauen. Eine von ihnen: Hannelore Kohl, die Frau des ehemaligen Kanzlers Helmut Kohl (CDU).
Doch wieso missbrauchen Soldaten im Krieg Frauen? Diese Frage hat watson Hubert Annen gestellt. Annen ist Dozent für Militärpsychologie und Militärpädagogik an der Schweizer Militärakademie, die zur ETH Zürich gehört.
Motivation: Machtdemonstration und Entehrung
Die Demonstration von Macht, meint Hubert Annen, sei ein wesentlicher Grund für den Missbrauch von Frauen. Auf individueller Ebene könnten solche Verbrechen Ausdruck von Aggression, Demonstration von Maskulinität und weiteren Emotionen sein, die durch die Ausnahmesituation des Kriegs befeuert würden. Hinzu käme, dass die Vergewaltigungen nicht bestraft würden.
Annen sagt:
"Somit kann das Ganze gerade im Kontext der Gruppe eine zusätzliche ungünstige und für die Opfer höchst tragische Dynamik annehmen."
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei seinem Besuch in Butscha.Bild: AA / Metin Aktas
Auch sei nicht auszuschließen, dass diese Handlungen von der Führung toleriert würden. Dass Putin der Brigade im Butscha nun die Ehrenwürde verliehen hat, untermauert die Einschätzung des Militärpsychologen. Und auch in anderen Kriegen und Konflikten ist die russische Armee mit extremer Gewalt und Schändungen aufgefallen.
Annen führt weiter aus:
"Gerade angesichts des umfassenden Widerstands der Ukrainer ist es (die Vergewaltigungen, Anm. d. Red) ein Mittel der Demütigung und maximalen Entehrung. Man signalisiert damit zum Beispiel den ukrainischen Männern, dass sie nicht zu ihren Frauen schauen können. Und das sprichwörtliche Eindringen in die Intimsphäre der Zivilbevölkerung soll den Gegner moralisch schwächen."
Es sei aus Sicht des Militärpsychologen nicht auszuschließen, dass auch berauschende Substanzen – also Drogen und Alkohol – diese Gruppendynamik noch weiter verstärken würden.
Kein exklusiv russisches Phänomen
Das russische Militär ist bekannt für diese aggressive Form der Kriegsführung – sie erinnert nicht nur an die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg, sondern auch an das Gebaren im Zweiten Tschetschenienkrieg. In diesem Krieg kämpften von 1999 bis 2009 Russland und pro-russischen Tschetschenen gegen tschetschenische Separatisten.
Aber natürlich ist der Missbrauch als Kriegsmittel kein exklusiv russisches Phänomen: Schätzungen gehen von 900.000 Vergewaltigungsopfern nach Ende des Zweiten Weltkrieges durch die Alliierten aus. Und zwar durch alle Alliierten.
Wie die Historikerin Miriam Gebhardt im Deutschlandfunk berichtet, gab es auch französische, britische und amerikanische Soldaten, die Frauen vergewaltigten – diese seien aber nicht geächtet worden. Es sei stattdessen unterschieden worden: Frauen, die von den westlichen Alliierten geschändet wurden, wurde die Schuld zugeschoben. Frauen, die von russischen Soldaten vergewaltigt wurden, fielen dem "bösen Iwan" zum Opfer.
Die Historikerin nennt zwei Gründe für diesen unterschiedlichen Umgang:
- Nazipropaganda, nach der die Rote Armee deutsche Frauen schändet.
- Loyalität in Westdeutschland zu westlichen Alliierten.
Eine Frau blickt auf die zerstörte Stadt Charkiw Mitte April.Bild: SOPA Images via ZUMA Press Wire / Laurel Chor
Auch im Bosnienkrieg (1992 bis 1995), in dem Serben, Kroaten und Bosniaken kämpften, ist es zu Massenvergewaltigungen gekommen. Nach Schätzungen wurden 20.000, meist muslimische Bosnierinnen, Opfer von sexualisierter Gewalt und Folter. Es wurden extra Lager errichtet, in denen es vorrangig um die Vergewaltigung von Frauen ging: Missbrauch mit System. Demütigung als strategische Waffe.
In einer Forschungsarbeit, die von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden herausgegeben wurde, hat die Politikwissenschaftlerin Elvan Isikozlu eine Typologie zu Kriegsvergewaltigungen entwickelt. Demnach sei zu unterscheiden, zwischen der Vergewaltigung von Schutzbefohlenen und von Feinden.
Die Vergewaltigung durch Soldaten, die eigentlich für den Schutz der Bevölkerung zuständig seien, erfolge demnach aus individuellen Gründen. Mit Kriegsstrategie habe das nichts zu tun. Anders sehe es bei dem Missbrauch der Feinde aus.
Isikozlu schreibt:
"Hauptziel dabei ist es, Zivilpersonen zu terrorisieren, damit sie sich unterwerfen, oder sie aus kriegstaktischen Gründen in die Flucht zu schlagen. Vergewaltigung ist auch eine Art der 'Kommunikation mit dem Feind', durch die ihm deutlich gemacht wird, dass er besiegt wurde und/oder nicht in der Lage war, seine Bevölkerung zu schützen."
Insgesamt, fasst auch Militärpsychologe Annen zusammen, stelle die emotional aufgeladene Situation des Krieges für jede Armee eine große Herausforderung dar. Und zwar insofern, als es schwierig sei, Voraussetzungen zu schaffen, dass sich wirklich alle Beteiligten an das Kriegsvölkerrecht hielten.
Annen sagt:
"Einzelfälle lassen sich wohl kaum verhindern. Es ist aber ein Unterschied, ob solche Taten seitens Führung in Kauf genommen oder toleriert werden oder ob Zeichen in eine andere Richtung gesetzt werden."
Russland indes leugnet, dass es in Butscha und anderen ukrainischen Städten, zu Kriegsverbrechen gekommen ist.
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