Butscha war bis zum 23. Februar eine Vorstadt wie viele in Europa. Einfamilienhäuser und Wohnblöcke, hübsche Vorstadtvillen, viel Grün. In Butscha, in der Region Kyjiw, lebten viele Menschen, die ein paar Kilometer entfernt leben wollten vom Trubel der ukrainischen Hauptstadt.
Wenige Wochen später haben in Butscha Artilleriegeschosse und Bomben aus Wohnungen, Geschäften, Straßen, Fitnessstudios, Kneipen und Sportstadien in Butscha Schutt und Geröll gemacht.
Gräber.
Unter den Gebäuden, in den Gärten und auf den Straßen davor lagen hunderte Leichen auf den Straßen Butschas: Körper von Männern, Frauen, Kindern. Manche verstümmelt, manche verkohlt, manche vergewaltigt. Die russische Armee hat in der Stadt ein Massaker angerichtet, vielleicht das Schwerste in Europa seit 1995. Seit dem Völkermord an Muslimen in bosnischen Srebrenica.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat alles verändert in Butscha, in Kyjiw, in Irpin, in Mariupol und Mikolajiw, in Odessa und Charkiw. In hunderten anderen Dörfern und Städten. In der ganzen Ukraine.
Was der Krieg in Deutschland verändert hat, wirkt dagegen fast lächerlich.
Das mit den Preisen sieht jede und jeder. Das Brot in der Bäckerei kostet mehr. Und die Tomaten erst, in der Gemüseabteilung oder am Marktstand! Fürs Restaurant gibt fast die Häfte der Menschen inzwischen weniger aus, ähnlich viele sparen bei Kleidung. Der Liter Benzin und Diesel über 2 Euro, schwer zu schultern für Menschen, die mit dem Auto zur Arbeit pendeln müssen – und erst recht für Unternehmen, deren Job der Transport von Waren ist.
Die Ampel-Koalition, das ist die vergleichsweise gute Nachricht, hat ein Entlastungspaket auf den Weg gebracht – und das fängt laut einer Studie der gewerkschaftsnahen Böckler-Stiftung einen erheblichen Teil der Zusatzbelastungen für sozial Benachteiligte auf. Die Regierenden in Bund und Ländern, und die Parlamentsmehrheiten hinter ihnen, werden höchstwahrscheinlich weitere Hilfspakete schnüren. Auch die Teuerungsrate wird irgendwann abflachen.
Es gibt aber Veränderungen durch diesen Krieg, die länger bleiben werden.
Der russische Angriff auf die gesamte Ukraine markiert eine Zeitenwende, Bundeskanzler Olaf Scholz hat das Ende Februar im Bundestag korrekt ausgedrückt.
Nicht, weil der Imperialismus des russischen Regimes neu wäre. Dessen Brutalität, den Rassismus für als nicht-russisch verstandene Völker und die Verachtung für menschliches Leben haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten Menschen in Tschetschenien, Syrien, im ostukrainischen Donbas zu spüren bekommen.
Aber der Vernichtungskrieg, den die russische Armee seit dem 24. Februar gegen die Ukraine führt, hat viele wachgerüttelt, die vorher mit Blick auf Putin abgewiegelt haben.
Anders gesagt: Der russische Angriff auf die gesamte Ukraine ist das brutale Signal dafür, dass Deutschland, seine europäischen Nachbarstaaten und ein großer Teil der Welt in einem Wettkampf der Systeme sind.
Man muss Wladimir Putin nicht interpretieren. Es reicht, dem russischen Präsidenten zuzuhören, um zu verstehen, was sein Feindbild ist.
Die Hetzreden, in denen Putin gegen "sogenannte Gender-Freiheiten" wütet, gegen "populistisches Gerede über Demokratie" in der Sowjetunion der späten 1980er Jahre. Seine Worte, in denen er Homosexuelle in die Nähe von Pädophilen rückt. Die nach und nach brutalere Wortwahl gegen die unabhängige Ukraine, der er eine eigene Identität abspricht.
Wladimir Putins Feinbild ist der Westen – oder das, was er dafür hält. In seiner verstörenden Rede vom 21. Februar, in der Putin mit Worten den Weg freimachte für den Vernichtungskrieg, kommen "Westen" oder "westlich" 15-mal vor, immer mit abwertender Bedeutung.
Der russische Präsident und Quasi-Diktator versteht sich als Gegenspieler des "Westens" – ein Westen, der geografisch weit reicht, zu dem auch Tschechien, Estland oder die Ukraine gehören, Neuseeland, Taiwan und Kanada.
Es sind Länder mit demokratischen Regierungssystemen, in denen Bürgerinnen und Bürger in freien Wahlen Parlamente wählen und dadurch Regierungschefs ablösen können. Staaten, in denen Parteien und Gewerkschaften, Bürgerbewegungen und Nichtregierungsorganisationen, in den vergangenen Jahrzehnten mit teils großem Erfolg für Freiheiten für LGBTQI und Migrantinnen gekämpft – oder für soziale Errungenschaften wie Mindestlohn und Elternzeit auch für Väter.
Es sind Länder, in denen Menschen so frei über ihr eigenes Leben entscheiden können, dass schon über eine banale Einschränkung wie die Maskenpflicht in Geschäften monatelang erbittert gestritten wird.
Die Ukraine hatte sich auf den Weg der Demokratie gemacht und war schon erstaunlich weit gekommen. Und das, obwohl sich das Land schon seit 2014 verteidigen musste gegen die russischen Kämpfer, die den Donbas und die Krim besetzten.
Dann griff Putin die Ukraine endgültig an, am 24. Februar 2022.
Putins Russland steht heute auf der anderen Seite des Konflikts. Im Lager der Autokratien, der Gegner der freiheitlichen Demokratie. Putin regiert seit 2000 praktisch ununterbrochen. Nur zwischen 2008 und 2012 tauschte Putin mit seinem Vertrauten Dmitri Medwedew das Präsidenten- gegen Ministerpräsidentenamt, um die damals gültige russische Verfassung nicht zu brechen. Eine Scharade, nicht mehr.
In Autokratien wie in Russland und in Partnerstaaten wie Belarus, Aserbaidschan, China, Kuba, Syrien oder Venezuela gibt es keine freien Wahlen. Die Bevölkerung kann der Regierung nicht die Macht nehmen. Wer seine Stimme gegen die Regierung erhebt, lebt gefährlich.
In gut funktionierenden Demokratien müssen die Regierenden sich Sorge darum machen, was die Bürgerinnen und Bürger von ihnen denken. In Autokratien müssen die Bürgerinnen und Bürger Angst davor haben, was die Regierenden mit ihnen machen.
Es sind zwei radikal unterschiedliche Gesellschaftsmodelle.
Was dieser Unterschied für den Alltag der Menschen bedeutet, kann in diesen Tagen jede und jeder sehen, die oder der nach Shanghai schaut.
Die staatlichen Anti-Corona-Maßnahmen in Deutschland, Italien oder den USA verblassen im Vergleich zum beinharten Lockdown in der chinesischen Metropole: positiv Getestete, die aus ihrer Wohnung in staatliche Isolationseinrichtungen gezwungen werden.
Menschen, die Hunger leiden, weil sie keine Lebensmittel mehr kaufen dürfen. Drohnen, die durch Wohnblocks fliegen und Menschen verbieten, auf den Balkon zu treten und zu singen.
Autokratien und Demokratien sind im Wettkampf miteinander: um Wirtschaftswachstum, Wohlstand und Einfluss auf der Welt.
Menschen auf der demokratischen Seite des Konflikts sollten begreifen, dass Machthaber in Autokratien vor wenig so viel Angst haben wie vor freiem Meinungsaustausch, vor Versammlungsfreiheit, vor Medien, die über Missstände berichten.
Das erklärt, warum der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko im Sommer 2020 die Proteste gegen seine betrügerische Wiederwahl niederknüppeln ließ. Das erklärt, warum Putin der russischen Gesellschaft die letzten Reste an Freiraum wegnimmt, warum er Oppositionelle vergiften lässt.
Diese Angst vor der Freiheit erklärt auch, warum Russland seit Jahren enorme Summen in Desinformationskampagnen steckt, die bei Menschen in demokratischen Ländern Zweifel an den dortigen politischen Systemen säen wollen – und Lügen und Verwirrung über die Gräueltaten des Putin-Regimes streuen.
Diese Desinformation wirkt auch deshalb so gut, weil es in demokratischen Staaten politische Kräfte gibt, die sie weitertragen: rechte Republikaner in den USA, die AfD in Deutschland, Rechts- wie Linksextreme in Frankreich und Italien.
Machthaber wie Putin wollen, dass Demokratien ins Rutschen kommen – dass sich möglichst viele Menschen in Frankreich, Deutschland oder Großbritannien einen starken Führer wünschen statt einer demokratisch eingehegten Regierung.
Desinformation ist eine der Waffen, mit denen Russland den Wettkampf mit dem sogenannten Westen führt: zu ihnen gehört auch die Erpressung durch Gas- und Öllieferungen. Cyberangriffe auf Parlamente und andere kritische Infrastruktur. Manipulation von Wahlen und Abstimmungen, wie bei der US-Präsidentschaftswahl 2016 und beim Brexit-Referendum im selben Jahr.
Der russische Feldzug gegen die Ukraine zeigt in blutiger Weise, dass Autokratien in diesem Wettkampf aber auch bereit sind, Kriege zu führen.
Daraus folgt für die demokratischen Staaten: Sie müssen wehrhafter werden. Die Autokraten in Moskau, Peking und anderswo müssen begreifen, dass sie es nicht wagen dürfen, ihre demokratischen Wettbewerber anzugreifen.
Womit wir beim Militär wären.
Gerade Deutschland muss wieder mehr und intensiver darüber sprechen, was die Aufgabe der Streitkräfte im eigenen Land und in den Nato-Partnerstaaten ist. Was Heer, Luftwaffe und Marine brauchen.
Wie sie in die Lage versetzt werden, zusammen mit Soldatinnen und Soldaten aus den USA, Tschechien oder Griechenland auf Provokationen und Angriffe autokratischer Aggressoren zu reagieren.
Darüber muss wieder mehr geredet werden. Und respektvoll gestritten, mit möglichst vielen Menschen. Mitte März sagte die Wehrbeauftragte Eva Högl (SPD) vor der Bundespressekonferenz auf eine Frage von watson nach dem Umgang mit denjenigen Menschen, die das Militär grundsätzlich ablehnen:
"Ich finde Kritik in Ordnung." Und: "Das Schlimmste ist Desinteresse."
Das ist wahr. Und diese Haltung ist eine gute Diskussionsgrundlage. Es bewegt sich ja gerade viel in der seit Jahren stark militärskeptischen deutschen Bevölkerung. 55 Prozent der Menschen sind laut einer Umfrage im Auftrag der Tagesschau inzwischen dafür, "schwere Waffen" an die Ukraine zu liefern, für ihren Verteidigungskampf gegen den russischen Vernichtungskrieg.
Ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro soll für die Bundeswehr eingerichtet werden, verankert im Grundgesetz (und damit nur schwer antastbar für künftige Regierungsmehrheiten). Die jährlichen Rüstungsausgaben sollen auf Dauer höher sein als zwei Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung.
Das Militär braucht Geld, weil die Freiheit in den demokratischen Ländern nicht vom Himmel gefallen ist – und weil es auf sie keine Ewigkeitsgarantie gibt.
Sie muss verteidigt werden gegen diejenigen, denen sie gegen den Strich geht. Und das kostet. Das war auch während der letzten großen Blockkonfrontation so, im Kalten Krieg zwischen demokratisch-kapitalistischen und kommunistisch-planwirtschaftlichen Staaten: Seit 1953 und bis in die späten 1980er Jahre gab die Bundesrepublik Deutschland Jahr für Jahr mehr als drei Prozent der Wirtschaftsleistung für die Armee aus.
Was aber macht es mit einer Gesellschaft, wenn das Militär präsenter wird?
Wenn Raketenabwehrsysteme und bewaffnete Drohnen öfter in den Schlagzeilen sind?
Wenn Anton Hofreiter, ein linker Grüner, in einer Fernsehtalkshow herunterrattern kann, wo genau welche deutschen Waffen gerade im ukrainischen Kriegsgebiet eingesetzt werden?
Das Beste, was Deutschland und anderen demokratischen Staaten passieren könnte: Wenn sie härter, wehrfähiger würden, gegen die Feinde der Demokratie – und gleichzeitig weicher.
Wenn also das Militär so stark wäre, dass es kriegslüsterne Autokraten wirksam abschreckt, Polizei und Geheimdienste so kompetent und gut ausgestattet, dass sie die Terrorpläne möglichst vieler Rechtsextremer, Islamisten und anderer Menschenfeinde zerschlagen.
Und wenn es gleichzeitig für Menschen aus der LGBTQI*-Community leichter würde, ihr Lebensglück ohne staatliche Hindernisse finden zu können, wenn der Kampf gegen Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe, Herkunft, Religion, unermüdlich weiterginge, wenn der Sozialstaat es schaffte, viel mehr Menschen als heute Wege aus der Armut freizuschaufeln.
Diese Fähigkeit zur Selbstverbesserung, zur unermüdlichen Selbstkritik. Die Möglichkeit, zu streiten, sich zu beschweren, gewaltfrei aufzubegehren gegen Ungerechtigkeiten: Das ist es ja, was wir verteidigen gegen die Autokraten.