Seit mehr als zwei Jahren wehrt die Ukraine bereits den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands ab. Anfangs hätten das einige Expert:innen nicht für möglich gehalten. Es hieß, das Land würde in wenigen Tagen fallen.
Auch der russische Präsident Wladimir Putin erhoffte sich eine rasche Einnahme Kiews. Aber die Ukraine war vorbereitet. Vor allem ist es der starke Wille der Menschen, der die russische Invasion abwehrt.
Allerdings benötigt die Ukraine dazu langfristig die Unterstützung aus dem Westen. Diese kommt zunehmend ins Wanken. In den USA stellen sich die Republikaner bei der Ukraine-Hilfe quer. Im November könnte Donald Trump erneut zum Präsidenten gewählt werden. Der 77-Jährige hält nicht viel von der Nato und könnte die Ukraine gänzlich fallen lassen.
Ein Szenario, das Europa aufwecken sollte. Doch hier herrscht Uneinigkeit und Streit darüber, wie sehr man der Ukraine helfen sollte, ohne selbst in den Krieg hineingezogen zu werden.
Zuletzt hörte der Kreml deutsche Offiziere beim Gespräch über Taurus-Marschflugkörper ab. Expert:innen warnen, Russland sehe Deutschland und Europa längst als Kriegspartei. Dennoch windet sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), die effektiven Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine zu liefern.
Allgemein gehen der Ukraine die Munition und die Waffen aus, wodurch sich derzeit ein düsteres Bild an der Front abzeichnet. "Das Momentum liegt derzeit auf russischer Seite, weil die ukrainischen Truppen mit Engpässen sowohl beim Personal als auch bei Waffen zu kämpfen haben", warnt Konfliktbeobachter Nikita Gerasimov von der Freien Universität Berlin.
Ihm zufolge leidet Kiew unter einem massiven Artilleriehunger, den der Westen bislang nicht in der Lage ist, zu kompensieren. Personell seien ukrainische Truppen ebenfalls erschöpft. Auf watson-Anfrage führt Gerasimov aus:
Erschöpfte Soldat:innen und fehlende Munition zeigen ihre Wirkung an der Front. So musste die Ukraine etwa die monatelang umkämpfte Stadt Awdijiwka aufgeben.
Militärexperte Gustav Gressel erklärt dazu gegenüber dem Bayerischen Rundfunk:
Laut Gerasimov ist die Offensivinitiative derzeit an fast allen Frontabschnitten an die russischen Truppen übergegangen. Die große Hoffnung in die ukrainische Sommeroffensive ist vollends zerplatzt.
"Der ukrainische Generalstab steckt offenbar in einer Schockstarre, wie nun weiter zu verfahren sei", meint der Konfliktbeobachter. Die Absetzung von Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj verschärfe dies noch mehr.
Im Februar fällte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine große Entscheidung: Er setzte General Saluschnyj als Armeechef ab. Der 50 Jahre alte Karriereoffizier diente seit Juli 2021 als militärischer Oberkommandierender der ukrainischen Streitkräfte. Er galt als äußerst beliebt und angesehen unter den Soldat:innen.
Gerasimov zufolge nutzt Russland diese Verwirrung derzeit voll aus. Innerhalb weniger Wochen gingen russische Verbände in Gegenoffensiven an nahezu allen Frontabschnitten über. Der Experte gibt dazu einen näheren Einblick:
Bereits im Februar sollen ukrainische Soldat:innen in Tschassiv Jar Gerasimov zufolge vor dem Fall der vorgelagerten Dörfer und einem baldigen Sturm der Stadt gewarnt haben. Scharfe Kritik ertönte gegenüber Kiew und Selenskyj: "Ihr werdet es nicht in Tagesnews sehen, nicht vom Präsidenten erzählt bekommen, aber der Feind rückt vor", zitiert Gerasimov die Stimmen vor Ort.
Die wichtigsten Hotspots dürften laut Gerasimov demnach der Robotyne-Verbove-Bogen sowie Tschassiv Jar westlich von Bachmut bleiben.
Mit dem Blick nach vorn werde sich die ukrainische Armee in diesem Jahr auf die Defensive konzentrieren. Dafür nennt der Experte zwei Gründe: Um das russische Offensivmomentum mit möglichst wenigen Verlusten zu überdauern und gleichzeitig Kräfte im Hinterland zu akkumulieren.
"Verschiedene ukrainische wie amerikanische Akteure sprechen davon, dass die nächste ukrainische Offensive bei den gegenwärtigen Bedingungen vermutlich erst 2025 realistisch sei", führt Gerasimov aus. Das sieht Oleksander Pawljuk, Oberbefehlshaber des ukrainischen Heeres, aber offenbar anders.
In einer TV-Sendung kündigt er laut ukrainischen Medien an, dass sich die Ukraine in diesem Jahr nicht nur gegen russische Angriffe verteidigen werde. Der Plan sei, auch selbst Gegenoffensiven durchzuführen. Man wollte die Frontlinie sichern, dem Gegner großen Schaden zufügen, eine Angriffsgruppe formieren und mit dieser dann zuschlagen, heißt es.
Ein Vorteil ist Pawljuk zufolge, dass Russland viele unerfahrene Soldaten an die Front schickt. Das wisse man aus abgehörten Gesprächen und die Verluste in russischen Reihen seien demnach sehr hoch. Wann und wo mögliche Gegenschläge starten könnten, verriet er nicht. Je weniger Informationen im Umlauf sind, desto besser, denkt sich wohl Präsident Selenskyj.
"Ich kann es offen zugeben – unsere Gegenoffensive lag schon auf dem Tisch im Kreml, noch ehe sie begann", sagte er Ende Februar und deutete dabei eine neue Offensive an. Aber: "Je weniger Leute davon wissen, desto schneller kommen der Erfolg und unerwartete Ergebnisse für die Russen", meinte er.
Ein zusätzlicher Faktor könnte Gerasimov zufolge die osteuropäische "Rasputiza" spielen.
Die "Rasputiza" bringt Gerasimov zufolge für beide Seiten der Front Probleme mit sich, ist aber tendenziell für die Offensivpartei immer von Nachteil. "Da die Russen derzeit die Offensive übernommen haben, wäre die 'Rasputiza' dieses Mal eher im Sinne der Ukrainer, da sie die russischen Truppen in ihrem Offensiv-Momentum lähmt", sagt er.