Was, wenn er nicht geht?
Was passiert, wenn der amtierende US-Präsident Donald Trump gegen den Demokraten Joe Biden die Wahl verliert, die eigentlich am 3. November abgeschlossen sein soll – aber sich weigert, das zu akzeptieren? Und was, wenn es überhaupt nicht zu einem klaren Ergebnis kommt?
Jahrzehntelang waren solche Überlegungen in den USA kaum relevant. Denn es lief (mit der Ausnahme der wochenlang umkämpfen Wahl im Jahr 2000) fast immer so: In der Wahlnacht, wenn die TV-Sender irgendwann bekannt gaben, wer die Mehrheit der Wahlmänner-Stimmen holen würde, rief erst der unterlegende Kandidat den Gewinner an. Und dann trat der Gewinner vor seine Anhänger. Aber diesmal machen sich Journalisten und Wissenschaftler, Politiker und Late-Night-Show-Moderatoren, lange und ernsthaft Gedanken darüber, wie das alles enden wird, wenn Donald Trump nicht gehen will.
Der Grund dafür ist, dass im Jahr 2020 viele Risikofaktoren zusammenkommen:
Die Gefahr bei diesen Wahlen ist nicht nur, dass Trump eine mögliche Niederlage nicht akzeptiert. Sondern auch, dass er, seine Berater und politischen Unterstützer viel dafür tun, dass überhaupt kein sicheres Ergebnis zustande kommt.
Das größte Problem dabei: Das politische System der USA hat nach Ansicht vieler Experten kaum Antworten darauf, dass sich ein Präsidentschaftskandidat schlicht nicht an die Regeln hält. "Wir sind darauf überhaupt nicht vorbereitet", sagt Julian Zelizer, Professor für Geschichte und Public Affairs an der Universität Princeton im US-Bundesstaat New Jersey dem Magazin "The Atlantic".
Josef Braml, Leiter des Amerika-Programms bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), sieht ein Problem sowohl bei Republikanern als auch bei Demokraten. Gegenüber watson sagt er:
Ein Überblick darüber, was bei dieser Wahl passieren könnte, wenn das Ergebnis strittig wird.
Seit dem Präsidentschaftswahlkampf 2016 hat Donald Trump mehrfach heikle Andeutungen gemacht oder sogar offen erklärt, dass er Wahlniederlagen nicht akzeptiert. Auf dem republikanischen Parteitag sagte Trump am 24. August:
2016, wenige Tage vor der Wahl, hatte er in einer Wahlkampfrede gesagt, er verspreche, dass er das Ergebnis akzeptieren werde. Dann machte Trump eine Kunstpause und ergänzte: "... wenn ich gewinne".
Und selbst, seit Trump 2016 die Wahl gewonnen hat, weil er sich die Mehrheit der Wahlmänner sicherte, hat er immer wieder (ohne Beweise vorzubringen) von Wahlbetrug gesprochen. Denn seine Konkurrentin Hillary Clinton gewann das "popular vote", also die Mehrheit der in den gesamten USA abgegeben Stimmen.
Vergangene Woche legte Trump nach. Bei einer Pressekonferenz im Weißen Haus lehnte er es ab, eine friedliche Übergabe der Regierungsmacht zu garantieren. "Wir müssen abwarten, was passiert", sagte er auf die Frage eines Reporters, ob er bei "Sieg, Niederlage oder Unentschieden" bei der Wahl "hier und heute" eine friedliche Übergabe zusichere.
Journalist Barton Gellmann, der für "The Atlantic" eine lange Analyse zum Thema geschrieben hat, fasst seine These so zusammen:
Aber was deutet konkret darauf hin, dass das Wahlergebnis umstritten wird? Und wie könnte es weitergehen, wenn es so kommt?
Donald Trump ist überzeugt: Je höher die Wahlbeteiligung, desto schlechter seine Chancen, wieder Präsident zu werden. Im März sagte er in der Sendung "Fox & Friends" auf dem rechtskonservativen Sender Fox News, die Demokraten wollten eine so hohe Wahlbeteiligung, dass "in diesem Land nie wieder ein Republikaner gewählt würde."
Damit die Beteiligung niedrig bleibt, verfolgt Trump offenbar zwei Ziele: Wählergruppen, die eher die Demokraten wählen, von der Wahl fernhalten. Und die Briefwahl diskreditieren.
Das erste Ziel, schreibt "The Atlantic", verfolgen Trump und die Republikaner unter anderem, indem sie, teils erfolgreich, Namen aus Wählerregistern streichen lassen und die Hürden für eine Registrierung als Wähler erhöhen. Das hält erfahrungsgemäß vor allem Menschen aus ärmeren Schichten und nicht-weiße Bürger vom Wählen ab. Denn während etwa in Deutschland jeder Bürger seinen Wahlzettel automatisch per Post zugeschickt bekommt und jedem Bürger Personalausweise zur Identifizierung ausgestellt werden, ist beides in den USA nicht der Fall: Wer wählen will, muss sich registrieren. Und wer sich registrieren lassen will, braucht ein offizielles Identitätsdokument. Personalausweise gibt es in den USA nicht, ein Führerschein oder ein Sozialversicherungsausweis (beides hat nicht jeder) sind meistens nötig.
Zweitens nimmt Trump die Briefwahl unter Beschuss. Immer wieder hat er gesagt, sie sei "ein absolutes Chaos", anfällig für Betrug. Und er hat damit erfolgreich eine Botschaft an republikanische Wähler gesendet: "The Atlantic" zitiert mehrere Umfragen, denen zufolge deutlich mehr Demokraten als Republikaner per Brief abstimmen wollen.
Trumps Attacke auf die Briefwahl kann einen Effekt zur Folge haben, der in US-Medien seit Wochen als "red mirage" bezeichnet wird, als "rote Fata Morgana". Weil mehr republikanische als demokratische Wähler am 3. November in Wahllokalen wählen gehen und mehr Demokraten per Briefwahl abstimmen, kann folgendes passieren: Da die Stimmen in Wahllokalen relativ schnell ausgezählt werden, könnte sich am Wahlabend, dem 3. November, zuerst ein Sieg Donald Trumps abzeichnen. Wenn dann aber nach und nach die Briefwahlstimmen ausgezählt werden, könnte der Demokrat Joe Biden diesen Rückstand aufholen. Mehrere Bundesstaaten, in denen die Republikaner (für die in den USA die Farbe Rot verwendet wird) zunächst als Sieger dastehen, könnten am Ende von den Demokraten (für die wiederum die Farbe Blau steht) gewonnen werden.
Es ist wahrscheinlich, dass Trump und viele seiner Verbündeten in der republikanischen Partei einen solchen Wechsel nicht akzeptieren – und der Präsident auf allen Kanälen gegen das Ergebnis wettern wird. Neben der Kommunikationsschlacht könnte eine juristische Schlacht kommen, die Republikaner könnten die Ergebnisse in mehreren Staaten vor Gericht anfechten. Mit dem Ergebnis, dass wochenlang unklar bleibt, wer in einigen Staaten gewonnen hat.
US-Experte Josef Braml sagt watson zu diesem Szenario:
Wie es dann weitergeht, entscheidet sich in den 79 Tagen zwischen der Präsidentschaftswahl und der Amtseinführung des Präsidenten. Und dafür gibt es drei entscheidende Daten:
Eigentlich ist es so: Die Wahlmänner und -Frauen stimmen für den Präsidentschaftskandidaten, der im jeweiligen Bundesstaat gewonnen hat. Die Wahlleute müssen in diesem Jahr bis 8. Dezember bestimmt werden, ihre Stimmen sollen sie am 14. Dezember abgeben. Normalerweise ist das eine Formalität. Das Problem: Gesetzlich festgeschrieben ist das nirgends. Wenn das Wahlergebnis wochenlang umstritten bleibt, könnte es in den einzelnen Bundesstaaten zum Streit darüber kommen, ob die Wahlleute für Trump oder für Biden abstimmen sollen.
Richtig kompliziert dürfte das in den Staaten werden, in denen der Gouverneur Demokrat ist - die Republikaner aber die Mehrheit im regionalen Kongress haben: Das ist in den vier umkämpften Bundesstaaten Michigan, North Carolina, Pennsylvania und Wisconsin. Es könnte so weit kommen, dass in diesen Staaten unterschiedliche Wahlmänner parallel ernannt werden, die für unterschiedliche Kandidaten abstimmen. Mit dem Ergebnis, dass auch nach dem 14. Dezember noch nicht klar ist, wer Präsident wird.
Am 6. Januar 2021 sollen die Stimmen der Wahlleute im US-Kongress in der Hauptstadt Washington ausgezählt werden. Auch diese Auszählung ist in der Regel eine Formalität. Sie dürfte aber hochumstritten werden, wenn der Wahlsieger immer noch ungeklärt ist. Dann wird es kompliziert – und womöglich noch hitziger.
Der 12. Zusatzartikel zur US-Verfassung regelt grundsätzlich, was passiert, wenn die Wahlleute keinen Präsidenten wählen: Dann geht die Macht an das direkt vom Volk gewählte Repräsentantenhaus über, die größte Kammer im Kongress. Aber in diesem Fall würden nicht die einzelnen Abgeordneten abstimmen. Sondern sie würden in Gruppen nach Bundesstaaten eingeteilt. Für jeden Staat würde nur eine Stimme abgegeben – und zwar für den Kandidaten der Partei, die im jeweiligen Staat die meisten Abgeordneten hat. Wenn das Machtverhältnis im Repräsentantenhaus so bleibt wie jetzt, heißt das: 26 Stimmen für Trump, 23 für Biden. Trump wäre weiter Präsident – egal, wie die Präsidentschaftswahl ausgegangen ist.
Gegen eine solche Wahl könnte sich die Mehrheitsführerin im Repräsentantenhaus, die Demokratin Nancy Pelosi, aber wehren, wie "The Atlantic" schreibt. Es könnte erneut zu einem Rechtsstreit kommen, der Supreme Court, der oberste Gerichtshof, könnte darüber entscheiden. Und selbst am 21. Januar könnte noch nicht feststehen, wer die Präsidentschaftswahl gewonnen hat.
Normalerweise wird der Präsident am 21. Januar 2021 im Amt vereidigt. Doch wenn bis dahin immer noch nicht klar ist, wer der Wahlsieger ist, könnte dieser Termin platzen.
Eine Option: Sollte per Gerichtsurteil festgestellt werden, dass kein neuer Präsident gewählt wird, dürfte die Mehrheitsführerin im Repräsentantenhaus Pelosi Interimspräsidentin werden.
Und wie es dann weitergeht, wäre schwer abzusehen. "Gewalt ist denkbar, sogar wahrscheinlich", hat Politologe Lawrence Douglas vor ein paar Monaten der "Zeit" für den Fall vorhergesagt, dass es so kommt.
US-Experte Josef Braml sieht aus den chaotischen Jahren der Politik in den USA vor allem eine Lehre für Deutschland - egal, wie die Wahl ausgeht: Europa muss außenpolitisch stärker werden. Braml wörtlich: