Derzeit ist die Stimmung zwischen Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wohl eher frostig. Bild: imago images / Eastnews
Analyse
Zwei, die sich eigentlich verstehen: Polen gehörte seit dem russischen Angriffskrieg zu den wichtigsten Unterstützern der Ukraine.
In Polen brach regelrecht eine beispiellose Welle der Hilfsbereitschaft nach Kriegsbeginn aus. Der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki kam oft zu Besuch nach Kiew, tauschte zuversichtliche Worte mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj aus.
Nun herrscht wohl eher Kälte.
Bei einem früheren Besuch umarmen sich Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und Wolodymyr Selenskyj.Bild: imago images / Volodymyr Tarasov
"Die polnisch-ukrainischen Beziehungen sind zur Geisel des polnischen Wahlkampfs geworden", sagt Piotr Buras auf watson-Anfrage. Er ist Leiter des European Council on Foreign Relations (ECFR) in Warschau. Am 15. Oktober finden Parlamentswahlen in Polen statt – laut Buras beeinflussen sie die sonst enge Beziehung zur Ukraine.
Doch von vorne. Wie ist es zum Streit gekommen?
Der Clinch um Getreideexporte
Hintergrund für den Zwist zwischen Polen und der Ukraine seien ukrainische Getreideexporte, erklärt Andreas Heinemann-Grüder vom International Centre for Conflict Studies (BICC). Diese werden von polnischen Bauern als Bedrohung ihres eigenen Absatzes gesehen, führt er auf watson-Anfrage aus.
Brisant: Viele Wähler:innen der polnischen Partei PiS leben auf dem Land. Derzeit regiert die nationalkonservative PiS ("Recht und Gerechtigkeit") das polnische Kabinett. Der Streit um das Getreide wird also zu einem Wahlkampfthema für die Parlamentswahl am 15. Oktober.
Ein Bauer arbeitet auf seinem Feld im Dorf Laszki, in der Nähe von Jaroslaw, Polen.Bild: imago images / Artur Widak
Die EU-Kommission hatte zuvor beschlossen, umstrittene Handelseinschränkungen für ukrainische Getreideexporte aufzuheben. Polen will aber an Importverboten festhalten und kündigt an, weitere Agrarprodukte aus der Ukraine auf die Import-Embargoliste zu setzen. Darauf droht Kiew, dass es ebenfalls ein Importverbot für Agrarprodukte aus Polen verhängen werde. Und geht noch einen Schritt weiter.
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Polen will angeblich keine Waffen mehr an die Ukraine liefern
"Die Ukraine hatte vor der Welthandelsorganisation (WTO) Klage gegen Polen aufgrund der Handelsbeschränkungen eingereicht", sagt Heinemann-Grüder. Daraufhin soll Polens Ministerpräsident und PiS-Politiker Mateusz Morawiecki von einem mutmaßlichen Stopp von Waffenlieferungen gesprochen haben. Damit eskalierte der Streit vollends.
Heinemann-Grüder führt dazu aus:
"Morawiecki machte daraufhin zwiespältige Äußerungen, die als Lieferstopp für künftige Waffen an die Ukraine interpretiert werden könnten. Der Zwist macht die zunehmenden Spannungen um die langfristige Unterstützung der Ukraine deutlich."
Die Kriegsmüdigkeit wachse, die Bereitschaft zur Solidarität nehme tendenziell ab. Laut Heinemann-Grüder steht die Ukraine mit dem Rücken zur Wand, weil die Offensive nicht die von vielen erhofften Ergebnisse gebracht hat. Dies erhöhe die Anspannung in der politischen Führung der Ukraine, die den Druck weitergibt. Dennoch treffe sie nun auf eine kriegsmüde Bevölkerung in den Unterstützerländern.
"Drei Länder standen bisher am stärksten an der Seite der Ukraine: die USA, Großbritannien und Polen. In den USA und in Polen ist die Solidarität mit der Ukraine zum innenpolitischen Thema geworden", erklärt der Experte.
Das Zeitfenster für die Ukraine verenge sich
Heinemann-Grüder zufolge schwindet für einen langen Krieg das politische Kapital. Die Aussage von Morawiecki ist seines Erachtens eine Warnung an die ukrainische Führung, dass Kiew die Hilfsbereitschaft nicht überstrapazieren sollte.
"Die polnische PiS-Regierung wird nicht ihre Stammwählerschaft unter Bauern aufgrund der Ukraine verlieren wollen", sagt er. Das sieht auch der Polen-Experte Buras so.
Polens Premier Mateusz Morawiecki (PiS) will offenbar seine Wähler:innen nicht vergraulen.Bild: imago images / Aleksander Kalka
Polnischer Wahlkampf nimmt Priorität ein
Der Wettbewerb zwischen der regierenden nationalkonservativen Partei PiS und der rechtsextremen Konfederacja (Konföderation Freiheit und Unabhängigkeit) um die Stimmen der nationalistischen und Ukraine-feindlichen Wähler:innen schade laut ihm dem Image Polens als enger Unterstützer der Ukraine.
Morawieckis Erklärung, in Zukunft mehr in die Landesverteidigung zu investieren, anstatt sich auf die Unterstützung der Ukraine zu konzentrieren, richtet sich laut Buras vor allem an das polnische Publikum. Denn: Durch den Getreidestreit sei die Skepsis gegenüber der Ukraine gewachsen.
Allerdings werde sich die militärische Unterstützung Warschaus für die Ukraine nach Morawieckis Erklärung nicht wesentlich ändern, erklärt Buras. "Der Rückgang der Lieferungen ist nicht auf einen Mangel an politischem Willen zurückzuführen, sondern auf die Erschöpfung der polnischen Ressourcen."
Das wachsende Selbstbewusstsein Polens in seinen Beziehungen zur Ukraine wird laut ihm auch noch nach den Parlamentswahlen am 15. Oktober anhalten. In Polen sei "nach der Wahl" auch "vor der Wahl", meint Buras. Er führt aus:
Der Wahlkampf wird weitergehen, da die Regierungsbildung schwierig sein wird und eine vorgezogene Neuwahl im Frühjahr 2024 nicht auszuschließen ist. Auch die Europawahlen 2024 und die Präsidentschaftswahlen 2025 werden die politische Debatte prägen, in der der bröckelnde Konsens über die Unterstützung der Ukraine eine wichtige Rolle spielen wird."
Kiew hingegen schenke wohl den Beziehungen zu Warschau weit weniger Aufmerksamkeit und sei bereit, Opfer zu bringen. "Im Hinblick auf die bevorstehende Debatte über die EU-Reform, die Erweiterung und den Wiederaufbau hat sich die Ukraine wieder auf die Länder konzentriert, die in der EU eine größere Rolle spielen: Deutschland und Frankreich", erklärt der Polen-Experte.
Piotr Buras leitet das European Council on Foreign Relations (ECFR) in Warschau.Bild: bild / seesaw-foto.com
Polen sei für die Ukraine daher heute nicht mehr allzu nützlich. Dennoch bemühen sich offenbar beide Seiten nach dem Streit bei der UNO in New York noch um Schadensbegrenzung. Demnach habe die Ukraine angekündigt, sie sei für einen Kompromiss beim Getreide bereit. Sprich, die derzeitigen Spannungen sollen ein Ende finden.
Währenddessen bricht eine Flut an Kritik über Polen ein. Etwa von der FDP-Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann.
Scharfe Kritik an Polen sei wenig hilfreich
Strack-Zimmermann fordert Konsequenzen für Polen, sollte das Land seine Waffenhilfe für die Ukraine einstellen. "Sollte die polnische Regierung aus innenpolitischer Stimmungsmache heraus der Ukraine keine Waffen mehr liefern wollen, sollte Deutschland erwägen, seine in Polen stationierten Flugabwehrraketensysteme direkt in die Ukraine zu verlegen", sagt die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag dem "Spiegel".
"Die scharfe Kritik an Polen, hierzulande sogar bis zu Drohungen, man könne die deutsche Unterstützung für Polen reduzieren, sind wenig hilfreich", meint Heinemann-Grüder. Er mahnt: Alle Beteiligten sollten die Emotionen unter Kontrolle halten.
Hier noch ein Herz und eine Seele: Wolodymyr Selenskyj und Polens Präsident Andrzej Duda.Bild: imago images / Jacek Szydlowski
Polen bleibe ein Verbündeter der Ukraine, aber die Vertreter der Ukraine sollten sich trotz der aufgerauten Gefühlslage auch vor Schritten hüten, die "Feuer mit Benzin löschen". Sprich: "Vertrauliche diplomatische Lösungen suchen, statt Frontalattacken gegen engste Verbündete zu fahren", sagt er.