Herzversagen, Suizid oder doch der Schamane? So in etwa sieht die Liste der Todesursachen der verstorbenen reichen Russen seit Jahresbeginn aus. Oft ist der Grund offiziell aber einfach "ungeklärt".
Immer wieder sterben Wirtschaftsvertreter aus Russland unter mysteriösen Umständen. Besonders seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar häufen sich die Fälle. Zuletzt am 7. Mai: Alexander Subbotin, ein ehemaliger Topmanager bei der russischen Ölfirma Lukoil. Er wurde tot bei einem Schamanen aufgefunden.
Aufgrund dieser Umstände spekulieren Expertinnen und Experten, ob die offizielle Einstufung als Suizid nur eine Tarnung des Kremls sei, um eine Säuberungsaktion zu verschleiern. Es gibt sogar Vermutungen, dass Putin selbst hinter den Morden stecken soll.
Dass Russland nicht gerade zimperlich mit Kritikerinnen und Kritikern umgeht, ist kein Geheimnis. Spätestens seit dem Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok auf Sergey Skripal, Ex-Agent des russischen Militärgeheimdienstes, im Jahr 2018 und den Giftanschlägen auf den kremlkritischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny in 2020 ist klar: Wer Kritik am Kreml oder gar Putin direkt übt – egal ob in Russland oder aus dem Ausland – sollte sich sicherheitshalber um Personenschutz bemühen.
Denn der Aufenthalt in einem anderen Land ist, wenn überhaupt, nur eine kurzfristige Lösung für Kreml-Gegner. Der russische Unternehmer Oleg Tinkov befand sich zwar schon längere Zeit im Ausland – aber nachdem er Putins Krieg gegen die Ukraine öffentlich kritisiert hatte, engagierte er sich Leibwächter. Er fürchtet um sein Leben.
Was es mit den mysteriösen Sterbefällen der reichen russischen Wirtschaftsvertreter auf sich hat, hat watson gemeinsam mit Elisabeth Schimpfössl, Dozentin für Soziologie und Politik an der Aston University in Birmingham, und Fabian Burkhardt, Osteuropaexperte am Leibniz-Institut, für euch analysiert.
Seit dem brutalen Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar, oder unmittelbar davor, sind offiziell acht russische Wirtschaftsvertreter und teilweise auch ihre Familien gestorben. Oder umgebracht worden. Das ist unklar. Die meisten von ihnen arbeiteten im russischen Energiesektor.
Die Wortwahl ist hier entscheidend: Entgegen der meisten Berichte über den Tod von mehreren russischen "Oligarchen", handelt es sich bei den Verstorbenen lediglich um ehemalige Topmanager oder Unternehmer aus der russischen Wirtschaft. So jedenfalls erklärt es Osteuropaexperte Fabian Burkhardt gegenüber watson.
Oligarchen hingegen seien die Klasse der Superreichen, die mit ihrem Reichtum auch politischen Einfluss ausüben. Das habe in den vergangenen zwei Jahrzehnten abgenommen – obwohl die Zahl der Dollarmilliardäre mit Privateigentum in Russland deutlich zugenommen habe.
"Es kam in den letzten Jahren immer wieder zu plötzlichem Sterben russischer Staatsangehöriger in Russland und im Ausland, bei denen viele vermuten, dass ein bisschen nachgeholfen wurde", sagt Elisabeth Schimpfössl im Gespräch mit watson. Beispielsweise die Leiter des militärischen Auslandsgeheimdienstes. Im Zweijahrestakt starben einige von ihnen an Vergiftungen oder angeblichen Herzinfarkten.
Der letzte Fall: Sergei Shoigu. Der russische Verteidigungsminister wurde im März mit einem schweren Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert. Auf der Intensivstation musste er maschinell beatmet werden. Kein Zufall, laut Schimpfössl: Möglicherweise sei er vergiftet worden.
Die Oligarchen-Expertin geht allerdings nicht davon aus, dass Putin selbst etwas mit der Vielzahl der mysteriösen Todesfälle zu tun hat.
Sie sagt:
Eher könnte es sich bei den mysteriösen Sterbefällen um einen "Kleinkrieg auf niedriger Ebene" gehandelt haben, sagt Schimpfössl. Damit meint sie: Die Strukturen in Russland und im Kreml sind streng hierarchisch geprägt. Kommuniziert wird ausschließlich auf der gleichen Hierarchieebene. Es könnte also auch ohne die Involvierung Putins zu einem Konflikt auf einer der niedrigeren Dienstgraden gekommen sein.
Zwar kämen russische Unternehmer immer mal wieder zweifelhaft zu Tode, die Häufung seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine sei aber auffällig, bestätigt Schimpfössl. Trotzdem müssten die Todesfälle nicht zwingend mit dem Krieg zusammenhängen.
Auch ein Zusammenhang zwischen den einzelnen Todesfällen lässt sich nicht bestätigen, lediglich vermuten. Immerhin waren sechs der acht Toten im russischen Energiesektor tätig – die Hälfte von ihnen sogar direkt bei Gazprom. Burkhardt sagt: "Derzeit gibt es keine Hinweise darauf, dass es sich bei den Todesfällen um eine zentral gesteuerte Serie von Morden handelt."
Grundsätzlich seien verschiedene Szenarien denkbar, erklärt er. Denn russische Topmanager hätten generell einen stressigen und "ungesunden" Lebensstil. Durch gefährliche Hobbys könne es zu Unfällen kommen und durch zu viel Stress im Beruf zu Herzinfarkten oder einem Suizid. Allerdings spreche das gehäufte Vorkommen – sowohl in Russland als auch im Ausland – dafür, dass andere Gründe im Spiel sein könnten, beziehungsweise müssten, sagt Burkhardt.
Zum Beispiel der russische Geheimdienst. Er könnte einzelne Personen ausschalten, weil diese über wichtige Informationen verfügen, die nicht in falsche Hände geraten sollen.
Oder die kriegsbedingte Umverteilung von Eigentum und Besitzrechten in Russland. Sie sorge bereits jetzt für "Dynamik und Verteilungskämpfe", sagt Burkhardt. Das könne auch dazu führen, dass sich Konkurrenten in der Wirtschaftsbranche mithilfe von Geheimdiensten gegenseitig ausschalteten.
Das alles seien allerdings derzeit nur Theorien, betont Burkhardt. "Bisher fehlt es an belegbaren Quellen, welche Gründe tatsächlich dahinterstecken könnten."
Der schwedische Wirtschaftswissenschaftler Anders Aslund sieht zumindest bei den Gazprom-Todesfällen einen möglichen Zusammenhang. Er will aus russischen Quellen erfahren haben, dass der russische Geheimdienst zwei Listen mit Namen von Führungskräften aus der Energiebranche in Russland erstellt haben soll. Die eine Ende 2021, die andere Anfang März. Das sagte Aslund der New York Post.
Und weiter:
Der Kreml habe den Verdacht, dass jemand aus der Energiebranche Informationen über Finanzierungen durchsickern lasse. Eine Finanzierung geheimer Operationen des russischen Geheimdienstes. Eine Finanzierung der Invasion in die Ukraine. Durch die Gazprombank.
Aslund meint zu wissen, dass die Listen Wladimir Putin vom Inlandsgeheimdienst vorgelegt worden wären und dieser die Liquidierung aller Personen auf der Liste genehmigt habe – ohne einen genaueren Blick darauf geworfen zu haben.
Es geht also neben den Informationen auch um Geld. Um viel Geld. Die Denkfabrik Warschauer Institut hält in einem Bericht dazu fest:
Denn sobald die Polizei an den Tatorten eintraf, tauchten auch Sicherheitsbeamte von Gazprom auf.
Bei den mysteriösen Todesfällen könnte es sich um Morde handeln. Und vieles deutet in Richtung Russland. Dass sie aber direkt aus dem Kreml oder sogar von Putin selbst in Auftrag gegeben wurden, ist eher unwahrscheinlich.