Wladimir Putin zusammen mit dem russischen Verteidigungsminister Sergei Shoigu bei einer Militärübung im September 2021 in Russland.Bild: AA / Kremlin Press Office / Handout
Analyse
22.05.2022, 15:4910.06.2022, 11:25
Herzversagen, Suizid oder doch der Schamane? So in etwa sieht die Liste der Todesursachen der verstorbenen reichen Russen seit Jahresbeginn aus. Oft ist der Grund offiziell aber einfach "ungeklärt".
Immer wieder sterben Wirtschaftsvertreter aus Russland unter mysteriösen Umständen. Besonders seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar häufen sich die Fälle. Zuletzt am 7. Mai: Alexander Subbotin, ein ehemaliger Topmanager bei der russischen Ölfirma Lukoil. Er wurde tot bei einem Schamanen aufgefunden.
Aufgrund dieser Umstände spekulieren Expertinnen und Experten, ob die offizielle Einstufung als Suizid nur eine Tarnung des Kremls sei, um eine Säuberungsaktion zu verschleiern. Es gibt sogar Vermutungen, dass Putin selbst hinter den Morden stecken soll.
Der russische Präsident Wladimir Putin im September 2021 in Sotschi.Bild: TASS / Vladimir Smirnov
Dass Russland nicht gerade zimperlich mit Kritikerinnen und Kritikern umgeht, ist kein Geheimnis. Spätestens seit dem Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok auf Sergey Skripal, Ex-Agent des russischen Militärgeheimdienstes, im Jahr 2018 und den Giftanschlägen auf den kremlkritischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny in 2020 ist klar: Wer Kritik am Kreml oder gar Putin direkt übt – egal ob in Russland oder aus dem Ausland – sollte sich sicherheitshalber um Personenschutz bemühen.
"Es kam in den letzten Jahren immer wieder zu plötzlichem Sterben russischer Staatsangehöriger in Russland und im Ausland, bei denen viele vermuten, dass ein bisschen nachgeholfen wurde."
Elisabeth Schimpfössl, Dozentin an der Aston University und Buchautorin von "Rich Russians: From Oligarchs to Bourgeoisie"
Denn der Aufenthalt in einem anderen Land ist, wenn überhaupt, nur eine kurzfristige Lösung für Kreml-Gegner. Der russische Unternehmer Oleg Tinkov befand sich zwar schon längere Zeit im Ausland – aber nachdem er Putins Krieg gegen die Ukraine öffentlich kritisiert hatte, engagierte er sich Leibwächter. Er fürchtet um sein Leben.
Was es mit den mysteriösen Sterbefällen der reichen russischen Wirtschaftsvertreter auf sich hat, hat watson gemeinsam mit Elisabeth Schimpfössl, Dozentin für Soziologie und Politik an der Aston University in Birmingham, und Fabian Burkhardt, Osteuropaexperte am Leibniz-Institut, für euch analysiert.
Immer wieder sterben russische Wirtschaftsvertreter
Seit dem brutalen Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar, oder unmittelbar davor, sind offiziell acht russische Wirtschaftsvertreter und teilweise auch ihre Familien gestorben. Oder umgebracht worden. Das ist unklar. Die meisten von ihnen arbeiteten im russischen Energiesektor.
Die Wortwahl ist hier entscheidend: Entgegen der meisten Berichte über den Tod von mehreren russischen "Oligarchen", handelt es sich bei den Verstorbenen lediglich um ehemalige Topmanager oder Unternehmer aus der russischen Wirtschaft. So jedenfalls erklärt es Osteuropaexperte Fabian Burkhardt gegenüber watson.
Oligarchen hingegen seien die Klasse der Superreichen, die mit ihrem Reichtum auch politischen Einfluss ausüben. Das habe in den vergangenen zwei Jahrzehnten abgenommen – obwohl die Zahl der Dollarmilliardäre mit Privateigentum in Russland deutlich zugenommen habe.
Der russische Verteidigungsminister Sergei Shoigu salutiert vor Wladimir Putin.Bild: POOL / Mikhail Metzel
"Es kam in den letzten Jahren immer wieder zu plötzlichem Sterben russischer Staatsangehöriger in Russland und im Ausland, bei denen viele vermuten, dass ein bisschen nachgeholfen wurde", sagt Elisabeth Schimpfössl im Gespräch mit watson. Beispielsweise die Leiter des militärischen Auslandsgeheimdienstes. Im Zweijahrestakt starben einige von ihnen an Vergiftungen oder angeblichen Herzinfarkten.
Der letzte Fall: Sergei Shoigu. Der russische Verteidigungsminister wurde im März mit einem schweren Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert. Auf der Intensivstation musste er maschinell beatmet werden. Kein Zufall, laut Schimpfössl: Möglicherweise sei er vergiftet worden.
Die Oligarchen-Expertin geht allerdings nicht davon aus, dass Putin selbst etwas mit der Vielzahl der mysteriösen Todesfälle zu tun hat.
Sie sagt:
"Putin selbst wird nicht hinter einer möglichen Beauftragung von Morden stecken. Dafür waren diese Menschen zu unwichtig."
Kein Mordauftrag durch Putin
Eher könnte es sich bei den mysteriösen Sterbefällen um einen "Kleinkrieg auf niedriger Ebene" gehandelt haben, sagt Schimpfössl. Damit meint sie: Die Strukturen in Russland und im Kreml sind streng hierarchisch geprägt. Kommuniziert wird ausschließlich auf der gleichen Hierarchieebene. Es könnte also auch ohne die Involvierung Putins zu einem Konflikt auf einer der niedrigeren Dienstgraden gekommen sein.
"Derzeit gibt es keine Hinweise darauf, dass es sich bei den Todesfällen um eine zentral gesteuerte Serie von Morden handelt."
Fabian Burkhardt, Osteuropaexperte am Leibniz-Institut
Zwar kämen russische Unternehmer immer mal wieder zweifelhaft zu Tode, die Häufung seit Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine sei aber auffällig, bestätigt Schimpfössl. Trotzdem müssten die Todesfälle nicht zwingend mit dem Krieg zusammenhängen.
Auch ein Zusammenhang zwischen den einzelnen Todesfällen lässt sich nicht bestätigen, lediglich vermuten. Immerhin waren sechs der acht Toten im russischen Energiesektor tätig – die Hälfte von ihnen sogar direkt bei Gazprom. Burkhardt sagt: "Derzeit gibt es keine Hinweise darauf, dass es sich bei den Todesfällen um eine zentral gesteuerte Serie von Morden handelt."
Gehäuftes Vorkommen der Todesfälle spricht für andere Gründe
Grundsätzlich seien verschiedene Szenarien denkbar, erklärt er. Denn russische Topmanager hätten generell einen stressigen und "ungesunden" Lebensstil. Durch gefährliche Hobbys könne es zu Unfällen kommen und durch zu viel Stress im Beruf zu Herzinfarkten oder einem Suizid. Allerdings spreche das gehäufte Vorkommen – sowohl in Russland als auch im Ausland – dafür, dass andere Gründe im Spiel sein könnten, beziehungsweise müssten, sagt Burkhardt.
"Bisher fehlt es an belegbaren Quellen, welche Gründe tatsächlich dahinterstecken könnten."
Fabian Burkhardt, Osteuropaexperte am Leibniz-Insitut
Zum Beispiel der russische Geheimdienst. Er könnte einzelne Personen ausschalten, weil diese über wichtige Informationen verfügen, die nicht in falsche Hände geraten sollen.
Oder die kriegsbedingte Umverteilung von Eigentum und Besitzrechten in Russland. Sie sorge bereits jetzt für "Dynamik und Verteilungskämpfe", sagt Burkhardt. Das könne auch dazu führen, dass sich Konkurrenten in der Wirtschaftsbranche mithilfe von Geheimdiensten gegenseitig ausschalteten.
Das alles seien allerdings derzeit nur Theorien, betont Burkhardt. "Bisher fehlt es an belegbaren Quellen, welche Gründe tatsächlich dahinterstecken könnten."
Zusammenhang der Fälle im Energiesektor möglich
Der schwedische Wirtschaftswissenschaftler Anders Aslund sieht zumindest bei den Gazprom-Todesfällen einen möglichen Zusammenhang. Er will aus russischen Quellen erfahren haben, dass der russische Geheimdienst zwei Listen mit Namen von Führungskräften aus der Energiebranche in Russland erstellt haben soll. Die eine Ende 2021, die andere Anfang März. Das sagte Aslund der New York Post.
Und weiter:
"Putin finanziert einen Großteil seiner Geschäfte über Gazprom und die Gazprombank. Und die Führungskräfte, die dort arbeiten, wissen alles über diese geheime Finanzierung. Der Gassektor ist der korrupteste Sektor in Russland."
Der Kreml habe den Verdacht, dass jemand aus der Energiebranche Informationen über Finanzierungen durchsickern lasse. Eine Finanzierung geheimer Operationen des russischen Geheimdienstes. Eine Finanzierung der Invasion in die Ukraine. Durch die Gazprombank.
Ein LNG-Tank im Logistikzentrum von Gazprom in Russland.Bild: TASS / Yuri Smityuk
Aslund meint zu wissen, dass die Listen Wladimir Putin vom Inlandsgeheimdienst vorgelegt worden wären und dieser die Liquidierung aller Personen auf der Liste genehmigt habe – ohne einen genaueren Blick darauf geworfen zu haben.
Es geht also neben den Informationen auch um Geld. Um viel Geld. Die Denkfabrik Warschauer Institut hält in einem Bericht dazu fest:
"Möglicherweise vertuschen einige hochrangige, mit dem Kreml verbundene Personen jetzt die Spuren des Betrugs in staatlichen Unternehmen. Sollte es bei Gazprom zu größeren personellen Umschichtungen in der Führungsetage kommen, könnte diese Hypothese zutreffen."
Denn sobald die Polizei an den Tatorten eintraf, tauchten auch Sicherheitsbeamte von Gazprom auf.
Bei den mysteriösen Todesfällen könnte es sich um Morde handeln. Und vieles deutet in Richtung Russland. Dass sie aber direkt aus dem Kreml oder sogar von Putin selbst in Auftrag gegeben wurden, ist eher unwahrscheinlich.