Die Ukraine darf unter anderem Panzerhaubitzen vom Typ 2000 und Raketenwerfer des Typs Mars II auf russischem Territorium einsetzen.Bild: dpa / Sebastian Gollnow
Analyse
Seit über zwei Jahren herrscht Krieg in der Ukraine und die Debatte um das Selbstverteidigungsrecht Kiews spitzt sich zu. Es ist ein heikles Thema: Darf die Ukraine mit den aus dem Westen gelieferten Waffen Ziele auf russischem Territorium angreifen? Diese Frage scheidet die Geister.
Bislang setzte Kiew hauptsächlich eigene Raketen und Drohnen für solche Angriffe ein. Ob die Ukraine sämtliche vom Westen gelieferten Waffen auch für Angriffe auf militärische Ziele in Russland nutzen sollte, wird unter Nato-Staaten kontrovers diskutiert. Und dennoch ist nun der Damm offenbar – zumindest teilweise – gebrochen. Frankreich, Deutschland und die USA haben eine Erlaubnis gegeben. Mit Bedingungen.
Lange hatte Deutschland nur Waffensysteme geliefert, die der Verteidigung der Ukraine dienten.Bild: Diehl
Die Nutzung bestimmter Waffensysteme auf russischem Territorium ist an strenge Auflagen gekoppelt. Der Hintergrund ist die Befürchtung, dass eine Eskalation den Konflikt weiter verschärfen und die Nato direkt involvieren könnte. Doch was bedeuten die aktuellen Entscheidungen für den Kriegsverlauf? Experten geben einen Einblick in potenzielle Gefahren und Chancen.
Waffen-Einsatz auf russischem Territorium mit Einschränkungen erlaubt
Wie Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Freitag in Berlin mitteilte, darf die Ukraine nun deutsche Waffen für Angriffe auf russische Stellungen nutzen; allerdings nur in das an die Region Charkiw angrenzende russische Gebiet.
Die Erlaubnis umfasst mehrere Waffensysteme, darunter die Panzerhaubitze 2000 und Raketenwerfer des Typs Mars II. Diese Waffen sollen der Ukraine helfen, sich effektiver gegen russische Angriffe zu verteidigen.
Bereits am Donnerstagabend hatte die US-Regierung bestätigt, dass sie der Ukraine erlaubt, amerikanische Waffen in begrenztem Umfang gegen Ziele auf russischem Gebiet einzusetzen. Ein US-Regierungsvertreter erklärte, dass dies ausschließlich für Gegenschläge zur Verteidigung von Charkiw gelte. Der Einsatz amerikanischer Waffen auf Ziele in Russland bleibe jedoch grundsätzlich verboten.
Zuvor hatte Frankreich bestätigt, die Ukraine könne von jetzt an russische Stellungen, die nahe der Grenze liegen, auch mit französischen Waffen bekämpfen. Angriffe auf zivile Ziele tief im russischen Landesinnern seien aber weiterhin tabu.
Westliche Waffen für Russland-Angriffe: Das bedeutet dies für den Krieg
Der Russland-Experte Stefan Meister sagt diesbezüglich zu watson, dass die aktuellen Waffen-Entscheidungen "der Ukraine mehr Handlungsspielraum geben" und das Land so besser die eigenen Städte schützen könne.
Aber: Es werde "den Kriegsverlauf aktuell nicht verändern".
Letztlich betreffen die Freigaben für "russisches Territorium" aktuell vor allem Regionen wie Charkiw. Dort wirke russische Wehrtechnik aus Russland heraus, sagt der Militärexperte Ralph Thiele zu "Focus Online". Und: "Deren Bekämpfung einschließlich der Stützpunkte macht Sinn, ebenso die Aufmarschräume für russische Verstärkungskräfte und die dazugehörige Logistik." Für einen "großen Krieg im russischen Hinterland fehlen" ohnehin die Kapazitäten, sagt der Experte.
Charkiw gehört zu den am schwersten umkämpften Gebieten im Ukraine-Krieg.Bild: AP / dpa / Evgeniy Maloletka
Kritiker:innen befürchten dennoch, dass die Freigabe der Waffenlieferungen eine rote Linie überschreite und die Nato-Staaten zu Kriegsparteien mache. SPD-Politiker Michael Roth versuchte bereits am Donnerstag im "Deutschlandfunk", diese Bedenken zu zerstreuen. "Die rote Linie ist das Völkerrecht, diese Linie wird nicht überschritten", sagte er.
Roth wertet die Freigabe westlicher Waffen mit Blick auf die jüngsten Ereignisse in Charkiw als positiv. Dort habe die Ukraine "fast vier Wochen lang zuschauen müssen", wie Russland einen Angriff vorbereitet habe.
Hybride Kriegsführung: Der Westen hat ein schwachsichtiges Auge
Während die Debatte seit Tagen auf Hochtouren läuft, hat Russlands Präsident Wladimir Putin mit Vergeltung gedroht. Zwar gibt es bisher keine offenen Atomschlag-Drohungen, aber er hatte dem Westen vor der Möglichkeit eines Atomkrieges im Falle einer direkten Konfrontation gedroht.
Aktuell läuft eine bereits angekündigte Übung von Putins nicht-strategischen Nuklearstreitkräften. Die Begründung des Kreml: Das sei eine Reaktion auf die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine.
Wie man diese Drohgebärde wahrnimmt, sei aber eine Frage des Blickwinkels, sagt der Militärexperte Ralph Thiele zu "Focus online". "Mit den Nuklearwaffen zeigt er dem Westen seine Marterinstrumente, die er erst dann einsetzen wird, wenn er in Schwierigkeiten gerät."
"Der Krieg in der Grauzone hat nun auch bei uns begonnen."
Militärexperte Ralph Thiele
Leicht übersehen werde hierzulande der Aufmarsch in der hybriden Kriegsführung. "Der Westen hat hier noch ein schwachsichtiges Auge und betrachtet gelegentlich einzelne Aspekte wie Desinformation oder Cyberangriffe, aber nicht die vielen Facetten hybrider Bedrohungen im Zusammenhang."
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Der Experte glaubt, dass Putin auf die Implosion ganzer Staaten und Gesellschaften abziele. Die Vorbereitungen darauf habe der russische Machthaber weitgehend abgeschlossen. Auch mit der jetzigen Entscheidung für den Einsatz der gelieferten Waffen ist für Thiele also klar: "Der Krieg in der Grauzone hat nun auch bei uns begonnen."
Experte sicher: Es braucht drastischere Maßnahmen für Erfolge
Der Osteuropa-Experte Andreas Umland glaubt, dass es umfassende Maßnahmen benötige, um den Kriegsverlauf maßgeblich zu beeinflussen: Zwar seien die aktuellen Entscheidungen "zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung, jedoch für sich genommen zu wenig, um den Kriegsverlauf prinzipiell zu ändern", sagt er zu watson.
Wladimir Putin droht dem Westen wegen der Unterstützung der Ukraine.Bild: Pool Sputnik Kremlin/AP / Alexander Kazakov
Umland nennt dabei eine Kombination aus effektiveren Waffenlieferungen, der Konfiszierung russischer Finanzmittel, verschärften Wirtschaftssanktionen und weiteren militärischen und diplomatischen Maßnahmen. Auch drastischere, wie die "Übernahme des Luftschutzes der Westukraine durch die Nato" oder die "Stationierung ausländischer Truppen williger Partnerländer im Hinterland der Ukraine" nennt er.
Der Experte ist überzeugt: "Ein solches Gesamtpaket würde nicht nur den Kriegsverlauf ändern, sondern Moskau die Aussichtslosigkeit beziehungsweise das Risiko weiterer Eskalation demonstrieren." Ihm zufolge wäre es Putin dann kaum noch möglich, militärische Erfolge zu erzielen und der Weg zu sinnvollen Friedensverhandlungen der Ukraine mit Russland wären offen.
Rolf Mützenich ist der Fraktionschef der SPD. In zahlreichen Debatten spricht er für seine Partei im Bundestag. Mützenich ist bekannt für seine Friedenspolitik, gleichzeitig half er aber auch bei der Durchsetzung des Sondervermögens für die Bundeswehr.