Liz Truss spricht das erste Mal als neue Regierungschefin vor ihrem Amtssitz an der Downing Street. Sie hatte sich zuvor gegen Mitbewerber:innen um den Parteivorsitz durchgesetzt.Bild: IMAGO / ZUMA Wire
Analyse
Nach dem Tod von Queen Elizabeth II. steht Großbritannien vor einer neuen Ära. Noch zwei Tage zuvor ernannte die Königin Liz Truss zur neuen Premierministerin. Jetzt hat Truss gewaltige Herausforderungen zu meistern: Inflation, steigende Gaspreise und Lebenshaltungskosten, ein notwendiger Umbau des Gesundheitssystems.
Ist die ehemalige Außenministerin Liz Truss den Aufgaben gewachsen? Welche Politik wird sie machen? Darüber hat watson mit Großbritannien-Experte Roland Sturm von der Uni Erlangen-Nürnberg gesprochen.
Der Ukraine-Krieg
Eins ist klar: Die Beziehungen zwischen Großbritannien und der Ukraine werden sich wohl auch unter Liz Truss nicht verändern. Das meint auch Experte Sturm. Er sagt: "Die werden weiter Waffen liefern. Da steht Großbritannien fest an der Seite der Verbündeten USA und den Nato-Partnern."
An dieser Stelle werde die neue Premierministerin die Politik ihres Vorgängers Boris Johnson fortführen. Truss war in Johnsons Kabinett Außenministerin. Als er seinen Rücktritt angekündigt hatte, bewarb sie sich um die Nachfolge. Jetzt ist sie also nicht mehr nur für die Außenpolitik zuständig, sondern muss sich auch mit der Inflation und steigenden Preisen befassen. Und damit, wie sie ihre Bevölkerung entlasten kann.
Die Teuerung
"Die Teuerung trifft viele Teile der Gesellschaft so hart, dass Frau Truss einen Widerspruch erlebt", meint Sturm. Eigentlich wolle die Politikerin ihrem großen Vorbild, der ehemaligen Premierministerin Margaret Thatcher, nacheifern und Steuern senken. Das hatte Truss bei ihrer ersten Erklärung vor ihrem Regierungssitz an der Downing Street angekündigt.
Margaret Thatcher war von 1979 bis 1990 Premierministerin und ist politisch das Vorbild von Liz Truss.bild: IMAGO / Photoshot
Doch ganz so einfach wird sie diesen Plan sehr wahrscheinlich nicht durchziehen, meint der Politikwissenschaftler. Er sagt:
"Durch die hohe Belastung für die Bevölkerung muss sie etwas tun, was nicht zu ihrer Politik passt. Sie müsste über Einmalzahlungen nachdenken, in welcher Höhe auch immer. Und es bräuchte einen Deckel auf die Energiepreise."
Truss wolle Steuern senken, um die Unternehmen zu entlasten. Die könnten wiederum für Jobs sorgen, so die Hoffnung. "Doch die Bevölkerung hat die Belastungen jetzt. Also ökonomisch ist das nicht durchdacht. Liz Truss ist keine Wirtschaftsexpertin", sagt Sturm.
Wenn Truss nicht für Entlastungen sorge, habe sie bald ein großes Problem. "Die Wahlkreise im Norden Englands, die Johnson gewonnen hatte, die würden reihenweise wegbrechen." Der Grund: Die Inflation trifft die nördlichen Landesteile Englands besonders hart. Die vormals industriell geprägte Region wählte bis in die 2000er-Jahre traditionell rot – also die Sozialdemokraten in Großbritannien (Labour Party).
Boris Johnson verlässt die Downing Street 10, den Amtssitz des britischen Premierministers.Bild: IMAGO / ZUMA Wire
Mit ihrer sozialdemokratisch geprägten Politik hole die Labour-Partei ihre Wähler:innen besser ab, als die konservative Tory-Partei. Die steht nämlich für eine unternehmerfreundliche Steuer- und Sozialpolitik. Doch die Debatte um den Austritt aus der Europäischen Union änderte alles: Der Brexit hat aus den einst roten Landstrichen, blaue gemacht – also Tory-Gebiet
Geändert hat sich auch der politische Kompass von Liz Truss. Sturm bezeichnet sie als "sehr opportunistisch". Die heutige Premierministerin war mal Mitglied einer anderen Partei: der liberal bis sozialliberalen "Liberal-Demokraten".
Truss war außerdem zunächst gegen den Brexit, später dafür. "Sie hat sich zum Schluss immer angepasst. Zuletzt an die Mitglieder der Tories, die sie gewählt haben", sagt der Experte.
Das Gesundheitssystem
Eine besonders große Baustelle, die Truss nun nach ihrer Wahl zu beackern hat, ist das Gesundheitssystem. Der National Health Service (NHS) sollte laut Johnsons Brexit-Kampagne von den Geldern profitieren, die zuvor nach Brüssel geflossen sind. Von diesem Versprechen ist nichts mehr übrig – nicht unter Johnson, nicht unter Truss. Und die Lage im Gesundheitswesen ist dramatisch, meint Sturm.
Er sagt:
"Da warten jeden Tag 1000 Leute darauf, um überhaupt in der Notaufnahme aufgenommen zu werden. Es bilden sich lange Schlangen mit Patienten, mit nicht ganz so dringenden Operationen. Stellen Sie sich das mal vor, sie warten mehr als 24 Stunden, bis sie mal drankommen."
Das Gesundheitssystem in Großbritannien ist überlastet.Bild: IMAGO / i Images
Um das zu ändern, müsse London mehr Geld in das Gesundheitssystem stecken. Das fällt Truss sehr schwer, sagt der Experte. Weniger Staatsausgaben sei ihre Devise.
Die Einwanderungspolitik
Durch den Brexit wurden Hürden für die Einwanderung aufgebaut. Wer darf sich im Land aufhalten und wer darf arbeiten? Das verschärfte Einwanderungsrecht habe alle Möglichkeiten stark begrenzt.
Dazu gehöre auch der umstrittene Ruanda-Deal. Johnson hatte das Abkommen mit dem afrikanischen Land ausgehandelt: Asylsuchende sollten in Ruanda, statt in Großbritannien, auf den Ausgang ihres Verfahrens warten. "Und der ist nur die Spitze des Eisberges", sagt Sturm.
Menschenrechtsaktivist:innen demonstrieren gegen den Ruanda-Plan.Bild: IMAGO / ZUMA Wire
Die britische Wirtschaft
Ein Brexit-Versprechen war die Eigenständigkeit von der EU in Wirtschaftsfragen. Zu viel habe Brüssel vorgeschrieben. Vom europäischen Kontinent ist dadurch ein wirtschaftlicher Druck auf die Inseln gekommen, der positive Effekte hatte, meint Politikwissenschaftler Sturm.
Sturm führt aus:
"In der Produktivität hängt Großbritannien schon immer den Kontinentaleuropäern hinterher. Schon seit den 1970er-Jahren. Auf Druck des EU-Binnenmarktes zogen sie immer ein wenig nach. Nun ist der Druck aus der EU weg. Die Frage ist, ob das der Weltmarkt kompensieren kann."
Der Wirtschaftssektor mit der besten Entwicklung ist der Finanzsektor – mittlerweile werden rund 30 Prozent des Bruttoinlandproduktes dort erwirtschaftet. Der Grund: Es gibt kaum Steuern, kaum Regulierungen. Truss könne dort am meisten "basteln", sagt Sturm. Doch: "Das ist nur für bestimmte Bevölkerungskreise eine Chance." Er meint damit die Reichen.
Protest von nordirischen Loyalisten, die Zollkotrollen auf der Irischen See ablehnen.Bild: IMAGO / NurPhoto
Streitpunkt Nordirland-Protokoll
Noch unter Johnson war mit der EU vereinbart worden, dass Waren und Güter, die von Nordirland nach England, Wales oder Schottland transportiert werden, durch den Zoll müssen. Hintergrund ist, dass auf der irischen Insel keine physische Grenze entstehen soll.
Das habe vor allem die konservative Parteibasis von Anfang an sehr stark kritisiert. Johnson selbst hatte immer wieder gegen die vom ihm unterzeichnete Regelung geschossen. Truss könnte hier den Konflikt noch einmal verschärfen.
Dazu sagt der Experte:
"Das wird zum Streit mit der EU führen. Die Frage ist, wer schlichtet den Streit. Die EU würde sagen, der Europäische Gerichtshof. Truss würde sagen, der ist nicht zuständig, den erkennen wir nicht an. Wenn wir keinen guten Willen erkennen, haben wir ein großes Problem."
Kritik an der Wahl Truss'
Die Kritik daran, weshalb nur die Mitglieder:innen der Konservativen über die Nachfolge Johnsons abstimmen können, findet der Wissenschaftler berechtigt. Das sei demokratietheoretisch fragwürdig, aber historisch gewachsen. "Das ist ein ungeschriebenes Gesetz." Eine geschriebene Verfassung habe Großbritannien sowieso nicht.
Rishi Sunak und Liz Truss konkurierten um den Pareivorsitz und damit um den Posten des Premierministers beziehungsweise Premierministerin.Bild: IMAGO / PA Images
Dass es überhaupt eine Abstimmung der rund 170.000 Mitglieder der Konservativen Partei gegeben hat, stuft Sturm als Fortschritt ein. "Früher wurde in den Hinterzimmern ausgemauschelt, wer das Amt des Premierministers übernimmt. Jetzt ist es modisch, eine Abstimmung abzuhalten."
Der Experte macht einen Reformvorschlag: Ein Gesetz könnte vorschreiben, dass sich Kandidat:innen zusätzlich dem Parlament stellen müssten.
Jedoch könne Truss froh sein, dass dies noch nicht die politische Praxis sei: Im Unterhaus hätte sich sehr wahrscheinlich ihr Kontrahent Rishi Sunak durchgesetzt – unter den Abgeordneten der konservativen Partei habe Truss nicht so einen großen Rückhalt, wie in der Parteibasis.